Ehrliche Stimmen, Liebe und etwas Sprengstoff

Der Kinofilm «Cheibe Zürcher» ist eine Geschichte, die das Leben geschrieben hat. Nicht eine, sondern viele kleine Geschichten, um genau zu sein: Erzählt von Menschen, die Teil des Mikrokosmos im Stadtzürcher Kreis 4 sind. Produzent Christoph Soltmannowski sowie Regisseur und Kameramann Nicolas Yves Aebi über den Film und seine Entstehung.

«Cheibe Zürcher»: Was zunächst wie das Ende der Verszeile eines Basler Schnitzelbanggs anmutet, ist in Wirklichkeit der Name eines lokalen Kinostreifens. Beides, Film und Titel, sind das Werk zweier Zürcher, die schon seit Jahrzehnten immer wieder zusammen für diverse Medien gearbeitet haben, der eine als Journalist und der andere als Fotograf. Die beiden kreativen Köpfe erzählen, wie es zu dieser Hommage an das Langstrassenquartier kam..

Natürlich will der «cheibe» Filmtitel nicht gegen die Zürcherinnen und Zürcher schnöden, sondern bezieht sich auf den «Chreis Cheib» (welcher seinen Namen, Sie wissen es vielleicht, den früher dort vergrabenen Tierkadavern verdankt und – nicht weniger morbid – dem mittelalterlichen Hinrichtungsplatz). Streng genommen handelt es sich bei dem Werk um nichts anderes als eine Liebeserklärung an die Gegend entlang der Langstrasse und die Menschen, die es bevölkern.

59 Gesichter, 59 Stimmen: Vom Ex-Fahnder, über Seelsorger, eine Baumkünstlerin oder Boxtrainerin bis hin zum Inhaber einer Männerboutique künden sie alle vom Reichtum des Quartiers. Ein Reichtum, der sich in blühendem Leben und Begegnungen zeigt. Und darin, dass ein Film über diesen Kreis 4 weder Plot noch Spannungsbogen braucht, um die Herzen der Zuschauer zu erobern. Ein Stadtviertel, das über hinreichend Geschichten verfügt, als dass man eine darüber schreiben müsste.

Die Idee zu dem Zeitzeugnis, das im einstigen Pornokino präsentiert wird, kam den beiden Medienschaffenden anno 2019. Hunderte Stunden, einige pandemie-bedingten Verzögerungen und 80 Interviews später hiess es dann: Film ab! Eine der Interviewten ist übrigens auch die Besitzerin des Kinos selbst, Zoë Stähli. Eine buchstäblich naheliegende Wahl. Wie aber lässt sich in so kurzer Zeit eine derart hohe Zahl auskunftswilliger Menschen ohne Kamerascheu auftreiben?

Menschen, die etwas bewegen

«Wenn man 30 Jahre in der Stadt gelebt hat», erklärt Regisseur und Kameramann Aebi, «kennt man das Quartier, kommt schnell ins Gespräch, so wie in einem Dorf.» Berührungsängste hat der 50-jährige ohnehin keine. Als Fotograf portraitierte er vor einigen Jahren für die Serie «Wir Zürcher» im Tagblatt hundert Menschen aus 135 Nationen. Die Sammlung wurde  Ende 2020 in einem Bildband zusammengefasst. «Du kennst durch deine Arbeit die halbe Stadt und konntest natürlich auch viel Erfahrung im Umgang mit Menschen sammeln», nickt bekräftigend Soltmannowski, der seit 1984 als Kommunikationsleiter und Journalist in zahlreichen grossen Häusern, ausserdem als einer der drei Gründer der Street Parade selber auf einen stattlichen Bekanntenkreis blickt.

Die Macher des Films: Christoph Soltmannowski, Nicolas Yves Aebi und Sven Prausner. (© Nicolas Yves Aebi. Cheibe Zürcher 2021)

Wenngleich all die skurrilen, ernsthaften und heiteren Anekdoten auch für die gestandenen Zürichkenner viel Erstaunliches boten, lag die grösste Überraschung dann doch in der grossen Resonanz, die dieser Film bislang erzielt hat. Und in der Akzeptanz. «Wir waren auf Kritik gefasst, im Sinne von Meinungen à la ‹ihr hättet mehr Junkies und Prostituierte zeigen sollen›». Solcherlei blieb aber aus. Ohnehin sei explizit nicht das Ziel gewesen, in effektheischender und sensationsgieriger Weise die Probleme des Quartiers auszuleuchten, unterstreicht Soltmannowski: «Wir wollten unvoreingenommen Leute zeigen, die etwas bewegen. All die Menschen aus verschiedenen Kulturen, Milieu und Nachtleben ebenso wie Gewerbe und Anwohner, die miteinander friedlich koexistieren». Auch Aebi betont: «Wir wollten ehrliche Stimmen einholen». Ausserdem gebe es bereits andere gute Werke, die sich mit konkreten Aspekten des Quartiers befassen. Der Film «Die Gentrifizierung bin ich» von Thomas Haemmerli etwa: «In diese Bresche mussten wir nicht auch noch springen», so Soltmannowski.

Ungekünstelt einfach mal sprechen lassen

Der Film sei ohne Drehbuch und konkreten Plan organisch gewachsen. «Dadurch bleiben auch die Protagonisten authentisch, ungekünstelt», sagt Routinier Aebi. Als gutes Beispiel dient die Szene, in der Werner Bösch von «Werner’s Headshop», neben seiner – mit grossen Augen und hochgezogenen Augenbrauen – unverhohlen verdutzten Kollegin Phyllis Item, lakonisch von einem Kunden erzählt, der da zwei Leute erschossen habe – wenn auch «eigentlich» aus Notwehr. Sehr ehrlich auch ein unerwarteter Protagonist: «Beim Interview mit Rechtsanwalt Valentin Landmann tauchte plötzlich ein Typ auf», berichtet Soltmannowski angeregt, «der sich als ‹bekennender Freier› geoutet hat. So jemanden aus dem Nichts vor die Kamera zu bekommen, ist ein Glücksfall.» Einen Hauch von Sex and Crime bietet der Film also allemal, unter anderem auch dank der Geschichte von Blick-Reporter Viktor Dammann von Bankräuber Mladen L., der anno 2016 mit drei halb durchsichtigen Abfallsäcken, gefüllt mit 2,45 Millionen Franken, aus der Zürcher Kantonalbank spaziert war.

Mit 80 Interviews hätte man natürlich locker zwei Filme füllen können. «Wir mussten eine Auswahl treffen, manchmal auch kürzen». Wertvoll sei dabei vor allem Cutter Sven Prausner, der Dritte im Bunde der «Cheibe Zürcher»-Macher gewesen, der einen besonderen Blick dafür habe, was dem Film guttue und was nicht. Aebi verrät, es habe besonders geschmerzt, dass sie den Erfahrungsschatz des «Schimanski von Zürich», Fredi Hafner, im Zaum halten mussten. Ein Beitrag übrigens, der Sprengstoff im eigentlichen Sinne des Wortes enthält.

Linke «Füdlibürger» und Hells Angels, die für Recht und Ordnung sorgen

Sprengstoff boten auch der eine oder andere Promi. Zwar habe man gezielt Helden des Alltags gesucht, erklärt Aebi. Entsprechend habe man ihn gefragt: «Was hat denn Dominique Rinderknecht im Film zu suchen?». Die Antwort liefert er kopfschüttelnd gleich nach: «Sie WOHNT da, wie schon ihre Grossmutter.». Und auch wenn Joel Basman im Film verschmitzt verrät, wie er als Kinder das ein- und ausgehende Publikum des gegenüberliegenden Bordells beobachtet habe, ist es nicht sein Status als Schauspieler, der ihm zu diesem Auftritt verhalf, sondern eben dies: Dass er etwas zu erzählen hat. Ebenso faszinierende Episoden erfährt man freilich genauso vom Inhaber des Elektro-Geschäft Pusterla, Jörg Loser, der in einer unerwarteten Notsituation keinen Geringeren als Sänger Ray Charles zum Kunden bekam.

Teil des Quartiers sind auch die Busse der VBZ. Chauffeur Roger Hunziker hat die beiden Filmemacher verblüfft. «Man denkt ja, man wisse schon in etwa, was erzählt wird. Bei einem Busfahrer etwa, wie schlimm es sei, durch die Langstrasse zu fahren. Aber hoppla, am Ende bekommt man etwas komplett anderes zu hören», gibt Soltmannowski zu. Nämlich, wie Hunziker, selber ein «cheibe Zürcher» und als Teenager obendrein «Töfflibueb» und Wirtesohn im Quartier, von den Hells Angels in die Schranken gewiesen worden sei. Mehr noch: In den frühen 80er-Jahren, als anlässlich der Gymnaestrada die jungen Turnerinnen in den Schulhäusern des Quartiers untergebracht worden waren, habe er eine Skandinavierin kennengelernt – seine heutige Frau.

Polarisiert hat letztlich vor allem die Politik, oder vielmehr ein Politiker: Alfred Heer. «Das Langstrassenquartier ist ja eine Hochburg der Linken, aber nicht nur», sinniert Soltmannowski. Und da komme der SVP-Heer und wettere über die «linken Füdlibürger». Aebi flachst: «Wo manche das Füdlibürgertum doch eher den Konservativen zuschreiben.» Eine Handvoll Leute seien gar aus dem Kino herausgelaufen, nachdem der SVP-Mann die seine Provokation abgesetzt habe. «Manche fanden aber auch, er, der Heer, habe recht», resümiert er entspannt.

«Man denkt, man wisse bereits, was erzählt wird. Aber am Ende kommt etwas komplett anderes.»

Ohne Netz und doppelten Boden

Was ursprünglich nach einem «Undergroundfilmli» aussah, ist mit unterdessen über 1000 Zuschauerinnen und Zuschauern zu einem lokalen Erfolgsfilm angewachsen. «Zwar macht uns fast die Schulter weh, so oft hat man anerkennend darauf geklopft, trotzdem haben wir ein Loch im Portemonnaie», meint Aebi schulterzuckend. Die beiden Macher hätten das Werk nämlich fast komplett aus der eigenen Tasche berappt, bestätigt Produzent Soltmannowski, ohne Subventionen und Unterstützung von Kulturförderungsinstitutionen. «So ein Film ist nicht förderungsfähig», meint er stirnrunzelnd, einerseits deshalb nicht, weil man kein Konzept habe vorlegen können, andererseits auch, weil der Inhalt nicht den Themen des aktuellen Zeitgeists entspreche.

Jedenfalls wurde aus dieser Ausgangslage heraus mit einfachen Mitteln gearbeitet, konkret mit einem Fotoapparat, der auch eine Filmfunktion enthält. Es ist denn auch den Vorlieben Aebis als Fotograf geschuldet, dass das wahrscheinliche bunteste Viertel Zürichs in Schwarz-Weiss daherkommt. Schlussendlich hat sich diese intuitive Entscheidung jedoch als künstlerisch wertvoller Segen erwiesen. «Die Charaktere der Gesichter kommen so viel deutlicher zum Ausdruck. Und es gibt dem Film eine gewisse Ernsthaftigkeit», meinen die Beiden übereinstimmend.

Das bewegte Bild hat den Fotografen in seinen Bann gezogen, «Ich habe Blut geleckt», grinst Aebi. Aktuell arbeitet er an einem Serienpilot, der im Jahr 1982 im Niederdorf spielt. Auch Journi Soltmannowski bleibt beim bewegten Bild. Er produziert unter anderem Videopodcasts, etwa das Format «Feel Good» mit Comedian Joël von Mutzenbecher. Auch wenn sich die Macher durchaus vorstellen könnten, ähnliche Werke nicht nur für weitere Zürcher Quartiere, sondern ebenso für andere Schweizer Städte zu drehen, entsteht doch der Eindruck, dass sie vor allem eines antreibt: Ihre Leidenschaft für die Stadt, in der sie gross geworden sind. Eine Leidenschaft, die einen nicht unberührt lässt – spätestens, wenn man im Kinosessel sitzt.

Aktuell

Der Film ist am 7. Juli in der Wunderkammer Glattpark zu sehen. Weitere Infos sind auf der Website cheibezuercher.ch zu finden.

VBZ-Buslinie 32: «Moviestar» mit acht Rollen

Artikel über die Kino-Buslinie 32.

Dieser Artikel ist erstmals am 13. September 2021 erschienen. 

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren