Die Firma Rapp Trans AG hat relevante Themen wie «Komfort», «Tempo», «Effizienz» und «Digital» zu einem «Zukunftsbild ÖV 2050» verdichtet. Hier erfahren Sie, welche Details und Herausforderungen Projektleiter Dr. Jörg Jermann dabei auf Trab hielten.
25 beteiligte Personen von sieben verschiedenen städtischen und kantonalen Dienstabteilungen und Ämtern, darunter drei Fachbeiräte aus Wissenschaft, Privatwirtschaft und ausserkantonaler Verwaltung sowie zusätzlich vier verschiedene interdisziplinäre Teams: So sieht ein Mammutprojekt aus. Die Frage an Jörg Jermann, ob er noch schlafen konnte, beantwortet er so: Er habe zu keinem Zeitpunkt Angst gehabt, dass sie nicht das hinbekämen, was den Erwartungen entsprochen hätte.
Die Erwartung war, die vier komplett getrennten Stossrichtungen der Teams am Ende unter einen Hut zu bringen. «Die Natur einer Planung, wie wir sie hatten, sieht so aus, dass man die Teams auf eine Stossrichtung zulaufen lässt. Was dabei herauskommt, ist aber komplett offen», erklärt Jermann.
Immerhin kann der 50-jährige Baselbieter auf eine grosse Erfahrung im Fachgebiet zurückblicken. Er trug, zuletzt als Leiter des Geschäftsbereichs Mobilität und ÖV-Delegierter, während insgesamt zwölf Jahren die Verantwortung für die Tramnetzplanung im Kanton Basel-Landschaft. Nichts Neues also?
Jermann schüttelt den Kopf und meint, grundsätzlich sei jedes Projekt in seiner Konfiguration einzigartig. «Allerdings war die Koordination des ÖV im Baselland politisch noch etwas komplexer, weil zwei Kantone involviert waren» (der Baselbieter ÖV fährt nämlich in die Stadt). Auch war seine Rolle als Projektleiter für das Zukunftsbild ÖV 2050 grundsätzlich eine andere, indem er dort als Unterstützer des Auftraggebers VBZ auftrat. Und so war das Projekt rund um die Stadtzürcher Mobilität doch wieder eine ganz neue Erfahrung für den Doktor in Ingenieurwissenschaften.
Hier das detaillierte Gespräch über die wichtigsten «Facts and Figures»:
Um was geht’s?
Die VBZ haben gemeinsam mit 25 Vertretern verschiedener Dienstabteilungen, externen Fachbeiräten und vier externen Teams das Bild des ÖV im Jahr 2050 entworfen. Dieses Zukunftsbild dient als Basis für die Erarbeitung der Netzentwicklungsstrategie 2040.
Wieso ist das für mich als Leserin oder Leser von vbzonline interessant?
Es geht hier um konkrete künftige Entwicklungen im öffentlichen Verkehr. Auch wenn der Zeithorizont mit 2050 weit gefasst ist, muss die Entwicklung jetzt aufgegleist und angestossen werden.
Welche Regionen standen bei der Arbeit im Fokus, nebst der Stadt Zürich?
Betrachtet wurden die Gebiete, für die die VBZ marktverantwortlich sind. Nebst der Stadt Zürich sind dies vor allem die Schnittstellen zum Limmattal und Glatttal sowie zu den Gebieten des Zimmerbergs und des Pfannenstiels.
Grundlage für die Arbeit bildeten ja vor allem die Anregungen aus der Bevölkerung. Wie wurden diese ausgewertet?
Ein Stück weit zeigte die Mitwirkung ein Spiegelbild von dem, was die Gesellschaft von den VBZ erwartet. Für uns hatte dies die wichtige Funktion, beim Entwicklungsprozess die Bedürfnisse der Leute nicht aus den Augen zu verlieren. Einerseits ergab sich daraus ein Grundtenor, in welche Richtung sich die VBZ zu entwickeln haben. Weiter wurden Einzelaspekte geäussert im Sinne von «Ich finde, das ist die Lösung». Im letzten Fall war zu prüfen, wie wir das aktiv in die Planung aufnehmen und später eine Rückmeldung dazu abgeben können.
Können Sie ein Beispiel geben?
Zum Beispiel wurde die Rolle der U-Bahn thematisiert und ob es gar keine Trams mehr braucht. Damit wussten wir, wir müssen zum Zusammenspiel U-Bahn und Tram eine Aussage liefern. Auch Seilbahn-Ideen wurden geäussert, also war klar, da werden Antworten erwartet – auch wenn wir das im Entwurf nicht vorgesehen hatten. Solche Inputs gaben wir als kritische Fragen in die Teams – und erhielten darauf entsprechende Antworten.
Konkret: Wie stark wurden die Ideen der Bevölkerung tatsächlich berücksichtigt?
Wir haben einen Mitwirkungsbericht mit über 600 Voten erstellt, um eine klare Basis für die Prüfung zu haben, inwiefern man diese zu griffigen Aussagen zusammenzuführen kann. Diese Voten flossen in die Arbeit der vier Teams ein, sodass am Ende eine konkrete Rückmeldung dazu abgegeben werden konnte.
Was beinhalteten die vier Stossrichtungen?
Beim Fokus «ÖV Komfort» ging es um die Grundsätze «direkter, bequemer», vor allem auch durch Direktverbindungen. «ÖV Tempo» fokussierte darauf, schneller und störungsarm unterwegs zu sein. Die Stossrichtung «ÖV Effizienz» konzentrierte sich auf eine ökonomische, hohe Leistung auf bestehenden und optimierten Infrastrukturen. Schliesslich ging es bei «ÖV Digital» um ein flexibles, automatisiertes Angebot und die Integration neuer Mobilitätsformen und Technologien.
Die Resultate der vier Teams beinhalteten einen grossen Strauss an Handlungsfeldern. Wie unterschiedlich waren die Flughöhen der Vorschläge?
Ich gebe ein Beispiel: Wir hatten die Stossrichtung «Tempo», die eher darauf abzielte, neue Infrastrukturen bereitzustellen um die Reisezeit zu verkürzen oder die Reisegeschwindigkeit zu erhöhen. Dabei handelt es sich um einen klassischen Ansatz, wie man ihn in den vergangenen 15 Jahren schon kannte. Eine andere Stossrichtung war die Frage, wie sich die digitale Welt in den nächsten 30 Jahren verändern wird, sodass vielleicht gar keine Infrastruktur mehr nötig sein wird, sondern intelligente Systeme. Sie können sich vorstellen, dass es in der Synthese die Herausforderung gab, sehr unterschiedliche Flughöhen von abstrakt bis sehr konkret zu vereinen.
Einzelne Themen des Zukunftsbilds ÖV 2050 wurden ja bereits breiter diskutiert. Was sagen Sie zu diesen Detaildiskussionen über einzelne Vorschläge?
Es ist sehr wichtig festzuhalten, dass unser Produkt nach der Synthese keine konkreten Linienführungen beinhaltet, sondern ein generelles Streckennetz. Das bedeutet, dass ich zwar sagen kann, «es soll ein Tram geben». Wohin es fährt, haben wir aber bewusst nicht konkretisiert, das ist noch völlig offen. Diese Detailarbeit war explizit nicht Inhalt des Zukunftsbilds, sondern wird erst im nächsten Schritt abgeklärt.
Einen besonderen Stellenwert erhält die polyzentrische Stadtentwicklung. Hat sich diese Erkenntnis aus den Arbeiten ergeben – oder war das schon vorher klar?
Es ist effektiv so, dass die Zürcher Stadtentwicklung eine polyzentrische Stadt als Input vorgegeben hat. Also war für die Teams klar, dass man Lösungen suchen muss, die dieser polyzentrischen, städtischen Ausrichtung Genüge tun. Spannend war dabei eine Erkenntnis, welche sich aus den Arbeiten ergab: Nämlich diese, dass die polyzentrische Betrachtung von Zürich auch ganz neue Mechanismen der Netzbildung möglich macht.
Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?
Wenn man beispielsweise drei Zentren hat, müssen diese auf gute, für die Fahrgäste effiziente Art miteinander verbunden sein. Diese Aufgabe kann die S-Bahn übernehmen. Die Verbindung Altstetten – Oerlikon beispielsweise galt bisher als Tangente, eine Verbindung entlang dem Stadtrand. Wenn man diese Stadtzentren verbindet, sind das aber plötzlich keine Tangenten mehr, sondern radiale Erschliessungen auf deren Zentren hin. Die Funktion hat sich damit völlig geändert, von einer monozentrischen hin zur polyzentrischen Stadt.
Sie haben die S-Bahn genannt. Wurden Planungen zur Weiterentwicklung der S-Bahn berücksichtigt oder stehen diese in Konkurrenz zu den geplanten Tramtangenten?
Die S-Bahn wird von ZVV und SBB entwickelt und definiert, also behandelten wir die S-Bahn als übergeordnetes System, in das wir nicht aktiv eingreifen. Die Resultate sind somit davon unabhängig, dennoch müssen die beiden Systeme S-Bahn und Tram-/Busnetz natürlich kompatibel sein. Das kann dann schwierig werden, wenn die S-Bahn sich in eine andere als die erwartete Richtung entwickelt.
Wie kann generell mit Entwicklungen umgegangen werden, die heute noch nicht feststehen, etwa Homeoffice, Mobility Pricing oder flächendeckendes Tempo 30?
Als wir im November 2019 mit der Arbeit begannen, war Homeoffice noch kein Thema. Da hat uns die Aktualität eingeholt. Man hat diesen Faktor höchstens beim Design der Stossrichtung «Digital» geprüft. Da wollte man entsprechende Veränderungen berücksichtigen, aber eher in einer generellen Form. Nun kann Homeoffice einen beträchtlichen Einfluss auf die Stadt Zürich haben. Wir wissen aber nicht, ob dieser Einfluss temporär oder dauerhaft ist. Wir sehen heute gewisse Tendenzen, auch auf dem Immobilienmarkt, wo es um die Vermietung von Geschäftsräumen geht. Wir aber bauen Infrastruktur mit einer Haltezeit von bis zu fünfzig Jahren, da kann man natürlich nicht ein einzelnes Jahr zum Anlass nehmen, die ganze Planung auf den Kopf zu stellen.
Trotzdem können Sie diese Homeoffice-Tendenz nicht ignorieren.
Das ist völlig klar, es gilt, die Entwicklung ganz scharf zu beobachten. Mobility Pricing wird tendenziell eine grössere Wirkung auf den Autoverkehr haben als auf den ÖV. Im städtischen Umfeld könnte so für andere Verkehrsteilnehmende potenziell auch mehr Platz entstehen. In der Arbeit der Teams war «Mobility Pricing» aber kein Faktor. Tempo 30 hingegen wurde aktiv in die Überlegungen miteinbezogen. Jedes Team musste eine Einschätzung abgeben, was das für seine jeweilige Stossrichtung bedeutet.
Wie sind die Teams mit futuristischen Themen umgegangen wie beispielsweise Drohnen?
Die Frage an die Teams zu futuristischen Themen war generell: «Was macht ihr, wenn das kommt?» Wir haben aktiv darauf hingewiesen, wo ein potenzieller Wandel stattfinden könnte. Was jedoch in den Teams nicht thematisiert wurde, ist der ganze Personenverkehr in der Luft, also eben beispielsweise Personendrohnen. Zwar gäbe es potenzielle Einsatzräume in der Schweiz. In der Innenstadt beispielsweise der Transfer von Hochhaus zu Hochhaus. Ein zweiter Einsatzraum wären die Alpen, wo man so viel besser vorwärtskäme als mit den Zickzack-Weglein. Das sind zwei sehr gegensätzliche Einsatzgebiete. Wir glauben aber nicht, dass diesbezüglich in den nächsten 30 Jahren eine Entwicklung stattfindet, die das System zum Kippen bringen könnte oder auf die stark reagiert werden müsste. Man redet schon seit Jahrzehnten davon, dass der Verkehr in die Luft gehen könnte, bisher kam es noch nicht dazu.
Selbstfahrende Shuttles oder digitale Rufbusse sind bei den VBZ ja heute schon ein Thema …
Ja, es gab die Tests mit Self-e, und die VBZ haben mit Pikmi im Bereich der digitalen Rufbusse schon etwas an der Hand. Der ÖV hat die Nase bereits weit vorne, wenn es darum geht, wahrzunehmen, was diesbezüglich in der Zukunft ansteht. Anders übrigens als der Strassenverkehr, bei dem die Automobilindustrie bewusst darauf hinarbeitet, dass es nur in sehr kleinen – kommerziell nutzbringenden – Schritten weiter geht.
Wie konnte sichergestellt werden, dass nebst den Inputs aus der Bevölkerung eine weitere, fachliche Aussensicht eingebracht wurde?
Im Projektteam waren auch verschiedene Fachbeiräte vertreten, so die Ostschweizer Fachhochschule, die SNZ Ingenieure und Planer AG und das Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt. Ausserdem erfolgte durch das Institut für Betriebswirtschaftslehre der Universität Zürich eine wissenschaftliche Begleitung.
Wie oft traf sich die Gesamtgruppe?
Die gesamte Gruppe traf sich an insgesamt drei definierten Workshop-Tagen: zum Start, zu einem Zwischen-Workshop und zum Schluss.
Bestimmt stiessen unter diesen verschiedenen Parteien auch unterschiedliche Interessen aufeinander. Wie konnten die Diskussionen im Griff gehalten werden?
Diskussionen hat es gegeben, und das darf es geben, ja das muss es sogar geben. Letztlich ging es darum, zu klären, «Was heisst diese Rückmeldung?», «Ist eine Kurskorrektur notwendig?» und «Kann ein Konsens erreicht werden?». Dies wurde im Nachgang zum Workshop mit den VBZ besprochen. Jedoch war eine Schlichtung nicht unsere Aufgabe, diese hatten die VBZ übernommen.
Welche weiteren städtischen und kantonalen Gremien sind in das Projekt involviert?
In der Projektaufsicht sind das Tiefbauamt der Stadt Zürich und natürlich der Zürcher Verkehrsverbund dabei. In der Begleitgruppe sind ausserdem die Dienstabteilung Verkehr, das Amt für Städtebau, die Stadtentwicklung Zürich und das Amt für Mobilität des Kantons Zürich vertreten.
Welchen Hintergrund haben die vier involvierten Teams, welche die verschiedenen Stossrichtungen erarbeiteten?
Es handelt sich grob gesagt um SpezialistInnen im Bereich Verkehr und Intermodalität beziehungsweise Verkehrsplanung und Verkehrsforschung, Raumentwicklung und -planung.
Wie geht es mit dem Projekt für Sie weiter?
Unser Mandat ist mit der Synthese abgeschlossen. Bei der nächsten Projektphase (Netzstrategie 2040), welche eines der vier Teams aus der Testplanung ausführen darf, sind wir nicht mehr dabei.
Hätten Sie trotzdem noch Anliegen für die weitere Detailarbeit?
Wir haben versucht, den Geist, den wir beim Zukunftsbild ÖV 2050 gespürt haben, in die Arbeit der vier Teams hineinzulegen. Das hat man erreicht, doch nun wäre es mir wichtig, dass das selektierte Team diesen Geist aufnimmt und nicht einfach seine ursprüngliche Idee weiterführt. Sonst ginge der Sinn der Synthese verloren.
Über das Team der Firma Rapp Trans AG
Die Abteilung «Mobilitätsangebote und neue Mobilität» des 125-jährigen Unternehmens beschäftigt sich mit der Entwicklung, Umsetzung und Begleitung neuer Mobilitätsformen und –angebote. Unter anderem konnte sie in den letzten drei Jahren an vier von zwölf verschiedenen Forschungspaketen zur Zukunft der Mobilität mitwirken oder aktiv teilnehmen. Ein Beispiel ist das gemeinsame Projekt mit der ZHAW im Rahmen des SVI-Forschungspakets «Verkehr der Zukunft 2060». Daraus entstanden ist eine Arbeit über Disruptive Geschäftsmodelle im Verkehr. Nebst Jörg Jermann beteiligten sich am Projekt Zukunftsbild ÖV 2050 der VBZ drei bis fünf Personen, darunter vorab Stefan Angliker und Stephan Appenzeller. Die Aufgabe des Teams bestand darin, die Fachteams zu führen. Die Gesamtprojektleitung wurde von den VBZ übernommen.