Der Zehntenhausplatz – eine Geschichte mit Zukunft

Der Zehntenhausplatz in Zürich-Affoltern ist keine Schönheit – im Gegenteil. Der einst dörflich geprägte Platz mit drei Restaurants, einer Metzgerei, Dorfläden und einem Brunnen ist heute Ein- und Ausgangstor der Autobahn im Norden der Stadt.

Aus allen Himmelsrichtungen fährt der Verkehr auf den Platz – über die Schauenbergstrasse vom Hügel herunter oder vom Unterdorf über die Zehntenhausstrasse, genau wie in beiden Richtungen über die Wehntalerstrasse. Vierspurig, laut, grau und anonym – nicht nur auf den ersten Blick.

Der Verkehr stoppt, wenn die Verkehrsampeln auf Rot wechseln. Dann wird es für einen kurzen Augenblick eigenartig ruhig auf dem Platz. Stimmung kommt keine auf – zu unschön ist das Rundherum; einzige Ausnahme sind einige Häuser aus vergangenen Zeiten: Das Gasthaus Löwen, die danebenstehenden Liegenschaften und das Zehntenhaus stehen als Zeitzeugen für das ehemalige Oberdorf der früheren Gemeinde Affoltern. Bis 1969 hiess der Platz Dorfplatz, als Reminiszenz an eine kleine Gemeinde am Rande der Stadt. Am Rande der Stadt ist Affoltern immer noch, die ländliche Idylle ist Geschichte. Seinen neuen Namen erhielt der Platz vom Zehntenhaus, einem mächtigen Gebäude, typisch für den Baustil im 17. Jahrhundert, das als stadtbürgerlicher Landsitz erbaut wurde.

Die früheste schriftliche Nennung stammt aus dem Bevölkerungsverzeichnis von 1689, das genaue Datum ist bis heute unbekannt. Das in der Affoltemer Chronik angeführte Baujahr 1509 erscheint eher unwahrscheinlich. Nachforschungen des Büros für Archäologie haben ergeben, dass es sich beim Gebäude nicht um die Zehntenscheune der Wettinger Abtei handeln kann, die etwa 100 Meter weiter stadtauswärts gestanden sein soll. In dieser Scheune wurden die Abgaben des Zehnten der Bauern für das Kloster Wettingen eingelagert. Der Begriff Zehnt bezeichnet eine etwa zehnprozentige Steuer in Form von Geld oder Naturalien an eine geistliche oder eine weltliche  Institution. Eine solche Abgabe war bereits im Altertum bekannt und über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit üblich – auch in Affoltern.

Das Zehntenhaus – eine Institution

Unabhängig von der Geschichte ist die Liegenschaft an der Zehntenhausstrasse 8 seit jeher für die Affoltemer das Zehntenhaus, das u.a. als landwirtschaftliches Mehrzweckgebäude der bäuerlichen Oberschicht, als Mietshaus mit Ladenlokal und vom Kleingewerbe genutzt wurde und wird. Die Ausstrahlung eines bürgerlichen Landsitzes hat das Gebäude vor vielen Jahren verloren. Seit August 2013 ist der ehemalige Werkstattraum ein Treffpunkt fürs Quartier. Die Stadt Zürich als Besitzerin der Liegenschaft stellte den 120 m2 grossen Raum im Erdgeschoss mit einer Raumhöhe von ca. 6 Metern dem Quartier zur Verfügung, geplant war für zwei bis drei Jahre, bis zum Beginn der Gesamtsanierung der Liegenschaft. Diese Zwischennutzung dauert an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Bei Vertragsabschluss war die einzige Auflage der Stadt: Der Raum soll für Aktivitäten genutzt werden, die im Interesse einer möglichst breiten Öffentlichkeit stehen. Mit dem ZehntenLunch jeden Mittwoch, der Gartenwerkstatt, der Atelierwerkstatt, der Informationswerkstatt, dem InterAct (interkulturelle Dienstage) und dem Schreibdienst sind viele Ideen vom Verein Quartiertreff Zehntenhaus realisiert worden. Auch Veranstaltungen haben über die Jahre eine Tradition. Dazu gehören der Weihnachtsmarkt, Filmabende und Walk-in Closet (Kleidertauschbörse) als wiederkehrende Anlässe, sowie im letzten Jahr der Besuch der Theaterreise Alles in Allem 2019 oder der Kunst-Szene Zürich 2018 als einmalige Events. Im Zehntenhaus wird über Änderungen und Veränderungen, über neue Projekte und Anliegen der Bevölkerung informiert und diskutiert. Dazu gehören regelmässige Informationen zur Zentrumsentwicklung und zum Tram Affoltern.

Neben vielen Erfolgsgeschichten gehören zum Quartiertreff auch Schattenseiten. So ist das Zähntekafi, das seit Beginn des Quartiertreffs immer samstags Gäste zu Kaffee und Kuchen empfangen hat, seit Ende November geschlossen. Für den Treff geht eine Ära zu Ende. Nun suchen die Verantwortlichen neue Ideen und Interessierte für eine Wiedereröffnung.

Zehntenhausplatz – zwischen Gegenwart und Zukunft

Doch zurück zum Zehntenhausplatz, diesem Ort, wo ein zufällig Vorbeifahrender sich fragen kann, wo genau nun der Platz ist. Es scheint eher eine breite Strasse mit zwei Ausbuchtungen zu sein, auf der einen Seite mit Parkplätzen belegt, auf der anderen steht immerhin der alte Dorfbrunnen, und es hat Bänke zum Verweilen. Grosse Veränderungen gab es in den letzten Jahrzehnten nicht, einmal von der Unterführung abgesehen, die 1977 gebaut und 2005 durch drei Fussgängerstreifen erweitert wurde. Auch für Peter Anderegg, Optiker, Gemeinderat EVP und Mitglied vom Wirtschaftsraum Zürich Nord/IG Zehntenhausplatz, ist der Platz nicht berauschend. Für ihn ist er Arbeitsort. 1978 begann er als Angestellter beim Augenoptiker Ulmer zu arbeiten, 1986 wurde er Geschäftsführer und ist seit 1994 Teilinhaber von Augenkontakt. «Der Platz – und damit meine ich die Seite mit dem Dorfbrunnen – hat zwei Gesichter. Im Sommer halten sich hier Menschen auf, auch Familien mit Kindern, die um den Brunnen spielen, trotz der hohen Lärmimmission. Im Winter hat es viele Passanten, aber es herrscht immer eine Art von Leere.» Er erhofft sich mit der kommenden Veränderung eine Aufwertung und mehr Lebensqualität. «Ob der Platz hier oder etwas weiter hinten ist, spielt für mich keine Rolle.» Klar ist, dass der Zehntenhausplatz und seine Umgebung in den nächsten Jahren in den Mittelpunkt rücken. Alles wird neu, vieles ist noch in einem laufenden Prozess. Es gibt aber auch bereits klare Linien und Entscheide.

Klar bleibt der Platz auch in Zukunft für den Verkehr ein Tor von und nach Zürich, Verbesserungen sind aber trotz der vielen Autos möglich. Die bestehende Fussgängerunterführung wird zurückgebaut, und auf dem Platz wird es mehrere Überquerungsmöglichkeiten für Fussgängerinnen und Fussgänger geben. Gemäss Planung soll ab 2028 das Tram von der Stadt ins Quartier fahren, vom Hauptbahnhof ohne Umsteigen und ohne Stau direkt nach Zürich-Affoltern. Für die Gestaltung der Spezial-Tramhaltestelle Zehntenhausplatz läuft momentan ein Wettbewerb. Die Projektvorschläge sollten Ende April 2021 vorliegen. Noch sind nicht alle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Projekt abschliessend geklärt, doch dem Tram gehört die Zukunft, genau wie dem neuen Platz, der Richtung Bahnhof Affoltern mit Park, Garten, Spielwiese und Dorfplatz erweitert wird.

Während der Bauzeit braucht es viel Geduld, Flexibilität aller Beteiligten und innovative Zwischenlösungen für die Geschäfte am Zehntenhausplatz. Da hoffen die Gewerbler auf eine gute Zusammenarbeit mit der Stadt und den Liegenschaftsbesitzern. «Wir haben noch keine Lösung aber Ideen», meint Peter Anderegg, «wir könnten uns auf dem Parkdeck des Zentrums Affoltern einrichten, oder als Gewerbetreibende gemeinsam im Zehntenhaus eine Übergangslösung anstreben, in einer Art Koexistenz von Kultur und Gewerbe.»

Weihnachtszeit – eine spezielle Zeit auch für den Zehntenhausplatz

In Zürich-Affoltern bringen die nächsten Jahre grosse Veränderungen, die in der Bevölkerung auch Unsicherheit auslösen. Speziell in solchen Zeiten sind für viele Menschen wiederkehrende Ereignisse beruhigend und wohltuend. In Affoltern gibt es verschiedene Traditionen, dazu gehört das weihnachtliche Gewand während der Adventszeit auf dem Zehntenhausplatz. Die in der Abenddämmerung erleuchteten Geschäftsfassaden, der Weihnachtsbaum neben dem Dorfbrunnen und die Sterne in den Bäumen bringen ein überraschendes Gefühl von Geborgenheit und ein Gefühl von Stille auf diesem lärmigen Platz. Vorübereilende bleiben einen Augenblick stehen und spüren die Stimmung, die es sonst nicht gibt. Kinderaugen strahlen. Plötzlich stehen die Menschen im Mittelpunkt. Das gilt auch für Peter Anderegg, der seit über 40 Jahren fast täglich am Platz arbeitet. Auf die Frage, was für ihn in all der Zeit als prägender Eindruck bleibt, meint er: «Die Menschen sind das Wichtigste. Und die guten Kontakte. Ich habe viele Menschen, die heute zu uns kommen, bereits als Babys gekannt, und heute kommen sie mit ihren Kindern ins Geschäft. Ja, gute Beziehungen und Menschen, das ist das Wichtigste.»

Informationen über Zürich-Affoltern:

https://www.portal.zh-affoltern.ch/news/affoltemer-news.html

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