«Wo wir fahren, lebt Zürich»: Unser Versprechen gilt in guten Zeiten und auch in diesen. Zürich lebt, auch wenn es gerade etwas aus dem Takt gekommen ist. Darüber, wie es unserer Stadt und ihnen so geht, erzählen Zürcherinnen und Zürcher gemeinsam mit uns in der Serie #sogahtsZüri. Pawel Rozencwajg , Mitarbeiter beim ZVV-Contact, erzählt, warum eine Flut an Reklamationen schöner sind als die Einreise nach Österreich.
Pawel Rozencwajg lässt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Genau deshalb arbeitet er ja auch im ZVV-Contact, dem Kundendienst für den ÖV im Kanton Zürich. Wer sich in dieser Abteilung tagtäglich den Reklamationen der Zürcherinnen und Zürcher annimmt, muss schon einstecken können. Trotz dem Umstand, dass freilich auch Lob zu hören ist. Kann man also einen, dessen Job es ist, aufgebrachte Mitbürger am Telefon zu beruhigen, überhaupt ans Limit bringen? Kann man.
Als wir ihn das erste Mal kontaktieren, ist er voller Vorfreude. Er will nämlich für ein paar Tage nach Österreich. Kein leichtes Unterfangen momentan, doch das ist ihm bewusst. Der Grund für seinen verwegenen Plan sind seine drei Jüngsten, die mit ihrer Mutter in der Nähe von Wien leben.
Einsamkeit, Emotionen und ganz viele Fragen
«Die Krise nehme ich ernst, in Panik bin ich aber nie verfallen», erzählt er, «und das, obwohl ich im Februar ja noch in Norditalien Skifahren war und danach im Tessin – also eigentlich überall dort, wo’s dann am schlimmsten kam.» Auch am Arbeitsplatz nahm er die Herausforderungen des Lockdowns sportlich. Obschon die Mails einher flatterten wie Briefe aus Hogwarts bei den Dursleys – für all jene, die mit Harry Potter vertraut sind. An die 300 schriftliche Anfragen täglich hatte das Team zu beantworten, um präzise zu sein. Nebst den Telefonanrufen – deren Vorteil immerhin darin liegt, dass nur so viele eingehen, wie Leitungen frei sind. «Wir haben gearbeitet wie die Roboter», schmunzelt Rozencwajg.
Zum Glück hat der feinfühlige ÖV-Experte auch das Zeug zum Psychologen: «Viele, vor allem auch ältere Menschen, wollen eigentlich nicht prioritär Beratung, sondern sind einsam, suchen das Gespräch.» Meist aber stehen eher nüchterne Sachfragen im Vordergrund: Rückerstattungen, der reduzierte Verkehr und das eingestellte Nachtangebot waren die Themen der Stunde. Der Versuch, die Mailbox am Ende des Tages jeweils auf Null zu bringen: eine Sisyphusarbeit. Auf die erste, riesige Welle folgte eine zweite und spülte dem Kundendienst Fragen zur Desinfektion der Fahrzeuge und den Abstandsregeln auf den Tisch. Mit im Boot: die ganze Klaviatur an Emotionen, von Ängsten über Unverständnis zu Verständnis und Dankbarkeit. Der kommunikative Profi gibt sich darüber unverdrossen, ja meint gar, es sei für ihn das schönste Erfolgserlebnis, wenn eine anfänglich erboste Beschwerde in gegenseitigem Wohlwollen ende. Oder Dankbarkeit geäussert werde. «Diese Gespräche bleiben mir am besten in Erinnerung – weil sie ehrlich und authentisch sind. Sowas wirkt wie ein warmes Licht auf mich», verrät er gerührt.
Wiedersehen mit Hindernissen
So offen der Optimist für die Anliegen der Fahrgäste ist, so geschlossen sind derzeit die Grenzen der umliegenden Länder. Während der ersten acht Wochen blieb der dreifache Papa brav zu Hause: «Ich hab mich – abgesehen vom Arbeitsweg – nicht vom Fleck gerührt». Dann aber schlug sein Vaterherz höher: Er hörte von einer neuen Verordnung, dank derer die Einreisebestimmungen nach Österreich gelockert worden seien. Zu normalen Zeiten besucht er nämlich dort alle zwei Wochen für einige Tage – Schichtarbeit macht’s möglich – seine drei Kinder im Alter zwischen 10 bis 16 Jahren. Jedenfalls bis Corona eintraf. Schliesslich, nach acht Wochen, schien es endlich wieder möglich, die Geschwister zu sehen. «Laut der Verordnung sind familiäre Fürsorgepflichten ein Grund einzureisen – oder ein Tier im Stall.» Rozencwajg lacht laut auf und schiebt hinterher, er hätte wenn nötig auch versucht, sich einen Tierstall zu beschaffen.
Und jetzt wollen wir erzählen, wie es ihm dabei erging. Um allfällige Missverständnisse vorab im Keim zu ersticken: Bei der Planung des freudvollen Wiedersehens überliess der Österreicher nichts dem Zufall. Er telefonierte drei Mal mit dem Innenministerium, füllte pflichtbewusst die entsprechende Eigenerklärung aus, packte alle Papiere ein und stieg, last but not least, ins Flugzeug Richtung Heimat.
Die erste Verwirrung am Frankfurter Flughafen, wo er in die Ankunftshalle gelotst wurde, um erst nach Deutschland ein- und umgehend wieder auszureisen, anstatt über den Transferbereich den Flieger zu wechseln, nahm der ehemalige Flughafenmitarbeiter gelassen. So etwas kommt in Frankfurt ja nicht nur zu Corona-Zeiten vor. In Wien dann die Landung und Ankunft, in einem gewissermassen toten Flughafen, die friedshofsähnliche Stille unterbrochen lediglich von Ansagen, welche die Ankommenden aufforderten, wieder heimzureisen. Und mitten in dieser Einöde Rozencwajg, dessen Schritte sich hallend der Einreisestelle nähern.
Zwei Wochen Quarantäne oder zurück in die Schweiz
«Die Grenzkontrollen sind ja bekanntlich überall, mit dem habe ich natürlich gerechnet», räumt der 40-jährige ein. Auch auf die Fragen war er gut vorbereitet. Dann ein Stoss vor den Kopf: Der an der Grenzwache postierte Beamte des Gesundheitsministeriums hat kein Gehör für Rozencwajgs bedachte Ausführungen. «Ich habe bisher alle zurückgeschickt», wird er später sagen, und dieser Plan ist auch in Bezug auf den erwartungsfrohen Einreisewilligen aus der Schweiz beschlossene Sache, noch ehe ein Wort gesprochen ist. «Was das Innenministerium gesagt habe, interessiere nicht, auch die Erklärung sei nichts wert. Angeboten wurden mir 14 Tage Quarantäne oder subito zurück in die Schweiz», keucht Rozencwajg.
In welcher Art sich die Stimmung entwickelt, wenn einer sich unverrückbar sicher ist, zur Einreise berechtigt zu sein, wie auch der zuständige Beamte ebenso bestimmt vom Gegenteil überzeugt ist, kann man sich vorstellen. Man würde wie zwei kampfwillige Stiere Stirn an Stirn stehen, wäre da nicht die Distanzregelung. Der von seinen Liebsten entzweite Vater wedelt mit der Eigenerklärung, der Beamte reisst sie ihm aus der Hand. Der Erstere, seiner einzigen Einreiselegitimation beraubt, verlangt das Dokument zurück, besteht auf seinem Recht, der Zweitere, in Verteidigung der ihm rechtsmässig verliehenen Gewalt, droht mit der Staatsanwaltschaft und poltert, der sich in arger Bedrängnis befindliche Österreicher habe überhaupt kein Recht. «Stellen Sie sich vor, kein Recht. Und das in meiner Heimat!» Rozencwajg rauft sich die Haare.
Stunden vergehen in dieser Pattsituation, am Ende werden es deren drei sein. Rozencwajg, umringt und mitleidig beäugt von sieben Polizisten, tippt mit zitternden Händen die Nummer des Gesundheitsministeriums in sein Telefon. Also den Arbeitgeber jenes Beamten, der den Ort des Geschehens mit einem gefauchten «Ich habe keine Zeit für Diskussionen» und der beschlagnahmten Eigenerklärung kurz zuvor verlassen hatte. Die Mitarbeiterin im Amt erkennt den Ernst der Lage sofort. «Ich war den Tränen nah, draussen vor dem Flughafen stand meine Exfrau mit den Kindern» berichtet er, immer noch sichtlich aufgewühlt. Sie müsse die Sache erst mit ihrem Vorgesetzten besprechen, wird unser Mann aus Zürich vertröstet.
Die Macht eines kleinen Satzzeichens
Nach einer weiteren Wartezeit am Flughafen klingelt das Telefon. Der Leiter des Coronastabs im Gesundheitsministerium persönlich. «Ich habe das Smartphone auf Lautsprecher gestellt, damit sie mir das nicht auch noch konfiszieren», schnaubt Rozencwajg. In der Folge werden die anwesenden Polizisten angehalten, den hinfort geeilten Beamten zurückzupfeifen. Nach dessen Rückkehr ist der Wurm im Apfel denn auch schnell gefunden. Es ist nämlich so: Die Verordnung enthält einen Kommafehler, der dazu führte, dass der Beamte vor Ort selbige falsch interpretiert hatte. Rozencwajg reist ein, tags darauf wird der Fehler korrigiert.
«Ich habe selber 15 Jahre in der Flugbranche gearbeitet, aber diese Härte hat mich total überrascht, ich war mental so erschöpft, dass ich zwei Tage nur daran denken konnte, was ich dort erlebt habe», ächzt Rozencwajg. Gelohnt hat es sich trotzdem, durfte er doch seinen Nachwuchs endlich wieder in die Arme schliessen und während sechs Tagen Zeit mit seinen Liebsten verbringen. Unterdessen hat es der Auslandsreisende wieder zurück in die Schweiz geschafft.
Jetzt kehrt auch am Arbeitsplatz die Normalität ein, berichtet der Wahlzürcher. Immerhin kämen wieder die üblichen Anrufe: «So à la ‹der Busfahrer hat die Haltestelle zehn Sekunden früher verlassen – ich hab das genau beobachtet›», lacht Rozencwajg und erklärt: «Ein sicheres Zeichen, dass wir nicht weit vom Alltag entfernt sind.» Aber was ist jetzt mit Österreich? «Die Kollegen haben mich grinsend gefragt, ob ich nächstens nochmals hinreisen würde.» Nun, er hat jetzt die Direktnummer des Coronastab-Beauftragten im Gesundheitsministerium. Und darf jederzeit anrufen. Wovon er denn notfalls auch Gebrauch macht, denn «wissen Sie, es geht um meine Kinder!»
Noch mehr Geschichten darüber, wie es den Zürcherinnen und Zürchern in diesen Zeiten geht, gibt’s unter #sogahtsZüri. Wer selber Teil von #sogahtsZüri sein möchte, kann unter vbz.ch/sogahtszueri mitmachen.