Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Tramlinie 11.
Die Reise startet im Auzelg. Dort, wo der 11er jeweils eine Pause einlegt, ehe er in die Gegenrichtung aufbricht, liegt eine eher spröde Ruhe in der Luft. Es scheint, als möge sich die Umgebung nicht so recht entscheiden, ob sie sich als lauschiges Naherholungsgebiet mit Schrebergärten und Reithof präsentieren oder sich dem in Oerlikon verbreiteten industriellen Charakter unterwerfen soll. Die beiden dunklen Glas-Wartehallen am Rande des Kiesplatzes zwingen unangepasst die Moderne in die Umgebung. Wer hier landet, entscheidet sich zwischen zwei Richtungen, von denen keine wie die andere ist. Das passt zum «Multikulti»-Image der weiteren Umgebung – und es passt vor allem auch zur Linie «11», deren Zahl dem Vernehmen nach bei Muslimen «Gott ist gross» bedeutet.
Eine Stadt in der Stadt und bewegte Bilder aus der ganzen Welt
Gross ist auch die Welt am nächsten Halt, dort nämlich, wo die Wetterpropheten auf dem Dach etwaigen Wetterstürmen ebenso trotzen wie unser Tram den Verkehrsturbulenzen unten auf der Strasse. Die in den Fernsehstudios produzierten multimedialen Ausflüge in alle Welt passen gut zum Spirit unserer Tramlinie. Auch den 11er nämlich zieht es in die Ferne; wenn man ihn lässt, dann will er in Zukunft bis nach Affoltern. Aber schon heute reizt er sein Potenzial ganz aus: Er zählt – neben der Linie 9 – am meisten Tramhaltestellen. Manch eine davon wird besonders rege genutzt, etwa beim meist prall gefüllten Hallenstadion, wo das 11i-Tram nicht selten bis in den letzten Winkel besetzt den nächstgelegenen Bahnhof ansteuert.
Es genügt diesem Tram aber nicht, «nur» die Stadt ihrer Länge nach zu durchqueren, es will alles – ja gar eine Stadt in der Stadt. Mit dieser Charakterisierung ist natürlich das lebhafte Quartier Oerlikon gemeint, das einen eigenen Markt, eine eigene Velorennbahn, ein eigenes Theater, einen eigenen Fussballclub, einen eigenen Bahnhof, eigene Fast-Food-Filialen sowie zahlreiche Restaurants mit nationalen und internationalen Speisen hat, ferner Fachgeschäfte, ja gar Nightlife-Hotspots – und das man eigentlich gar nicht zu verlassen bräuchte, um alles zu finden, was das Herz begehrt.
Von der Welt der Akustik in «Öhrlikon» über den «Flucheggplatz»
Nach all den visuellen Reizen steuert unsere Elf nun – obwohl knapp nicht mehr in «Öhrlikon» – DEN Tempel der Akustik an. Die SRG bekam zwar unlängst auf ihre Ankündigung, das Berner Radiostudio ebenfalls nach Zürich zu verlegen, von verschiedenen Seiten eins an die Löffel: Die Berner möchten doch lieber in ihrem Monbijou bleiben.
Bei Auswärtigen mitunter auch nicht so beliebt ist der «Flucheggplatz». Ein Name, der ihm von ortsunkundigen Autofahrern verliehen wurde, die hier – der Unübersichtlichkeit des Platzes geschuldet – die eine oder andere Ehrenrunde gedreht haben, weil: richtige Ausfahrt verpasst. Über solche Verkehrsprobleme würde unser Tram natürlich süffisant lächeln, wenn es denn süffisant lächeln könnte (ja, Schienen haben soooo viele Vorteile), weswegen der blauweisse Wagen mit der grünen Nummer nun beschwingt und fröhlich Richtung Schaffhauserplatz rauscht; notabene immer die Innenstadt im Visier.
Zürich in seiner glanzvollsten Grösse
Wenn der 11er vor etwas keine Angst hat, dann sind es die ganz grossen Schauplätze. Nach einem kurzen Szenewechsel und vorbei an den stolzen Häuserfassaden der Schaffhauser- und Stampfenbachstrasse, gibt er sich die ganz Grossen von Zürich: den Bahnhof, ja zweimal gar, den Paradeplatz, und natürlich die Schöne, das Bellevue, dann weiter, vorbei am urzürcherischen Sächsilüteplatz mit dem stolzen Opernhaus.
Worauf die Linie 11 indes keine grosse Lust zu verspüren scheint, sind die Ausgangsviertel der Limmatstadt – erstaunlich, wo sie doch eine Schnapszahl vor sich herträgt. Wer sich einen solchen also genehmigen möchte, tut gut daran, das Fahrzeug am Stadelhofen zu verlassen und sich ins Seefeld zu begeben, zum Beispiel in Richtung Drinxbar, Purpur oder Gainsbourg.
Nur für eine kurze Strecke bis zum Kreuzplatz kreuzen sich der Wege der Linie 11 mit denen der Linie 8. Dann geniesst sie ihre Exklusivität. Die eintretende Ruhe wissen auch andere zu schätzen, wie ein Kommentar zeigt, den man auf Google Maps zur folgenden Haltestelle Signaustrasse liest: «Schöner Platz zum Stehen während des Wartens auf die Straßenbahn. Praktisch in der Nähe der Türen platziert.»
Die Ahnengalerie der Trams und eine liebliche Ruhe
Der Zauber des ruhigen Hirslanden-Quartiers zeigt sich mit etwas Fantasie schon im Namen «Hedwigsteig». Vor allem die Kinder wissen das: «Harry Potters Eule, die Hedwig!», entfährt es freudig einem vielleicht 12-jährigen Mädchen im Tram. In Wirklichkeit natürlich bedeutet dieser Name «die Kämpferin im Krieg». Ich kann Ihnen versichern, davon ist hier nichts spürbar.
Plötzlich nimmt die 11 über den Hegibachplatz Fahrt auf in Richtung ihres «Walhalla» – ich glaube, diese Bedeutung darf man ihm geben, dem Trammuseum am Burgwies, Heimstätte aller Ahnenfahrzeuge der Zürcher Tramgeschichte. Wer noch mehr in die Welt der Zürcher Fahrzeuge eintauchen will, als es diese «Psychogramm»-Reihe erlaubt, der ist dort übrigens bestens aufgehoben.
Während meiner Fahrt mutiert das Tram dann auch noch zum temporären Krankentransport. Nicht weniger als vier Herren an Krücken humpeln am Balgrist durch die Fahrzeugtüren. Weiter, am Friedhof Enzenbühl vorbei, kommt die Linie 11 allmählich an ihrem anderen Ruhepol an; nämlich an der Rehalp, Einstiegstor ins schöne Wehrenbachtobel und das damit verbundene Naherholungsgebiet. Es ist die liebliche Ruhe eines Ortes, der zum Verweilen einlädt. Jedenfalls so lange, bis das Tram wieder Kurs in die Gegenrichtung aufnimmt.