Franziska von Grünigen, die unter dem Pseudonym «Katja Walder» die Pendlerkolumne «Abgefahren» schrieb, über ihren Knigge, magische Momente, Nägelknipsen im Zug, «Manspreading» und andere Spielarten zwischenmenschlichen Verhaltens.
Illustration: Daniel Müller
Der ÖV könnte so schön sein, wenn bloss die anderen Leute nicht wären… Zwar bietet das Miteinander in Tram, Bus und Zug mitunter Konfliktpotenzial, aber ebenso Chancen auf bereichernde Erlebnisse. Franziska von Grünigen hat unter dem Pseudonym «Katja Walder» die Marotten der Mitreisenden beobachtet und in ihrer Kolumne «Abgefahren» mit den Leserinnen und Lesern von «Blick am Abend» geteilt – bis zur Einstellung der Gratiszeitung per 21. Dezember 2018. Auf Anfang dieses Jahres wurden die Erfahrungen der 40-jährigen als Buch in 99 humorvolle Gebote zum Verhalten im ÖV übersetzt. Mit uns hat die sympathische Radiomoderatorin und Mutter zweier Kinder über die bisweilen absonderlichen Varietäten zwischenmenschlichen Verhaltens gesprochen – und darüber, wie sie sich ein spannungsfreies, aber spannendes gemeinsames Unterwegssein vorstellt.
Frau von Grünigen, Sie haben vor kurzem 99 Gebote für den ÖV als Buch veröffentlicht. Braucht die Schweiz einen Pendlerknigge?
(lehnt sich entspannt zurück). Nun, vieles ist mit einem Augenzwinkern gemeint. Ich habe zugegebenermassen selber ein etwas ambivalentes Verhältnis zu den «ÖV-Sündern», denn mich amüsieren viele Situationen. Ich glaube, die Allgemeinheit ist da sensibler als ich. Ich höre oft Klagen über Dinge, bei denen ich selber ein Auge zudrücken würde, etwa «Gahts no, im ÖV go ässe?». Die Idee, solche Anliegen in einem Knigge zusammenfassen, wurde von der Beobachter-Edition an mich hergetragen, und ich fand sie gut, weil ich weiss, was stört.
Viel Humor also, aber manche Tipps im Buch sind auch sehr ernst. Beispielsweise die Geschichte eines Sehbehinderten, der angepöbelt wird, wenn er am falschen Ort steht.
Ja, das ist furchtbar. Es gibt tatsächlich sehr ernste Beispiele und andere, die weniger wichtig sind. Wobei der Unterschied nicht immer ganz klar ist. Ein Beispiel: Joghurtkratzgeräusche. Eine Nichtigkeit, eigentlich, aber trotzdem relevant, denn das stört anscheinend viele Menschen. Generell sind Geräusche für viele sehr unangenehm.
Sie schreiben ja auch, was besonders störe, sei das Knipsen von Zehen- und Fingernägeln im ÖV. Hand aufs Herz: Wurde das je beobachtet?
Natüüüürlich! Immer wieder erhalte ich Rückmeldungen von Leuten à la «Hey weisch, was mir passiert isch? Da hät öpper Nägel knipst!». Das Schlimmste ist, wenn man es nicht sieht, sondern nur hört. Das startet ein Kopfkino, grauenhaft. Und da ist dann auch für mich die Grenze erreicht. Am Ende spickt das Zeug dem Nebenmann noch ins Thonbrötli, das der dort auch nicht essen sollte (schmunzelt).
Da gehen wir doch lieber schnell zurück zu einem positiveren Thema. Was mögen Sie am meisten im ÖV?
Es sind die kleinen magischen Momente. Wenn zwei Menschen etwa aus dem Nichts miteinander ein Gespräch anfangen. Da war zum Beispiel dieser Mann, der im Zug ein kleines Kistchen auspackte. Er nahm es auf die Knie, öffnete den Deckel, sah hinein und strahlte über das ganze Gesicht. Dann hat er es wieder eingepackt, um nach einer Weile den Akt zu wiederholen. Es lag ein Zauber in diesem Moment.
Haben Sie nachgefragt, was drin ist?
Leider hat sich das nicht ergeben. Normalerweise frage ich aber gerne nach. Gestern beispielsweise sassen im Zug vier Männer beieinander, dem Klischee nach so «richtige Kerle». Es hat mich interessiert, was das für Typen sind. Auf meine Nachfrage hat sich herausgestellt, dass sie auf der Heimfahrt von der Swiss-Moto waren. Im Verlauf des Gesprächs hat einer dieser «harten Jungs» erzählt, dass er seine Wäsche nach wie vor von der Mutter waschen lässt…
Erfahren Sie bei Ihren Kontaktversuchen auch Widerstand?
Natürlich reagieren die Leute unterschiedlich, wenn ich versuche, Blickkontakt herzustellen. Die einen sind brüskiert, irritiert, schauen weg, andere lachen. Auch ich bin freilich nicht immer in Stimmung für ein Gespräch.
Es gibt aber bestimmt auch Dinge, die Sie im ÖV stören?
Ja, sicher. Es ist sozusagen das Gegenteil einer Begegnung, also die ignorante Unfreundlichkeit. Wenn die Leute in ihrem Mikrokosmos eingekapselt, so stumpf in ihrer eigenen Welt sind, dass selbst ansatzweise kein Austausch möglich ist. Klar, ich bin auch Teil dieser Welt, auch ich schaue manchmal einfach aufs Handy oder höre Musik. Aber der ÖV würde so viele Chancen bieten, andere Menschen kennenzulernen. Man denke nur schon an all die Singles, die da herumsitzen.
Katja Walder, die Verkupplerin?
(lacht) Grundsätzlich leben wir in einer Welt, in der viele immer isolierter werden und sich eigentlich nach dem Gegenteil sehnen. Ich sehe in dem engen Kontakt, dem man im ÖV ausgesetzt ist, auch eine Chance.
Erkennen Sie bei der angesprochenen sozialen «Isolation» bereits eine Trendwende?
Ich habe die Hoffnung, dass das Smartphone nicht mehr als verlängerter Arm dienen wird, bis meine Kinder grösser sind. Zum Glück höre ich oft von jungen Menschen, die beim Social-Media-Hype nicht mitmachen wollen, die das direkte Gespräch suchen, ganz im Sinne von «Erzähl mir deine Geschichte». Um das geht es im Leben. Ich fände es grossartig, könnte man in den Zug einsteigen und für einen kurzen Moment die Welt des Gegenübers spüren.
Apropos spüren: In Ihrem Buch wird einerseits empfohlen «Mach dich nicht so breit», andererseits aber auch «Rutschen Sie nicht weg – breiten Sie sich aus». Ein Widerspruch.
Beim ersten Beitrag geht es um die neudeutsch genannten «Manspreader», die sich ihren Raum nehmen, indem sie breitbeinig auf dem Zweierplatz sitzen. Das machen die ja nicht zum anbandeln. Trotzdem hat man als Frau die Wahl, sich unterzuordnen, dem Sitznachbar den Platz zu lassen und sich klein zu machen… Oder eben das zu tun, was Berührungstherapeutin LuciAnna Braendle in ihrem Tipp empfiehlt: Nämlich einfach mal auszuprobieren, was passiert, wenn man nicht nachgibt, sondern den Körperkontakt erwidert. Es ist interessant zu beobachten, dass es dem Mann häufig etwas unangenehm wird, weil er merkt: «Ah, das läuft nicht wie gewohnt, da kommt etwas entgegen». Von daher ist das kein Widerspruch, sondern eine schöne Einladung, die Enge, das Ölsardinengefühl, für einmal nicht als Belastung, sondern als Chance zu sehen.
«Ich sehe in dem engen Kontakt, dem man im ÖV ausgesetzt ist, auch eine Chance.»
Anderes wichtiges Thema – das Telefonat! Einmal empfehlen Sie, nicht zu laut zu reden und keine Intimitäten auszuplaudern, an anderer Stelle plädieren Sie für eine möglichst verständliche Sprache.
(amüsiert). Das ist schon so. Wenn jemand telefoniert, möchte man bitte sehr auch wissen, worum es geht. Sonst ist das so quasi «den Speck durch den Mund gezogen». Wenn schon Lärmbelästigung, dann mit Inhalt. Trotzdem: Mir fehlt einfach manchmal das Fingerspitzengefühl dafür, was öffentlich erzählt werden soll und was nicht. Scheinbar ist vielen Leuten nicht klar, wieviel sie preisgeben. Dank Handyrecherche lässt sich nämlich recht einfach eruieren, wer da spricht. «Zug-Lausch-Googeln» sage ich dem. Eine Ortschaft hier, ein paar Stichworte da, die Bildersuche und schon weiss man: «Aha, das ist der Hanspeter Hugentobler, der nach dem Tankstopp seine Freundin auf dem Parkplatz vergessen hat.»
Sie empfehlen im Buch auch, das Zügeln nicht per ÖV zu erledigen. Haben Sie tatsächlich schon mal jemanden mit einem Sofa im Zug gesehen?
Ehm, ich habe selber schon ein Sofa in der S-Bahn transportiert. Ich besitze nämlich kein Auto, kann auch nicht Autofahren. Wir sind eine autofreie Familie.
Sie verstossen sozusagen gegen Ihre eigenen Regeln?
(grinst) Aber natürlich nur ausserhalb der Stosszeiten.
Sie erhalten auch viele Zuschriften von Leserinnen und Lesern. Wieviel erleben Sie selber?
Ich würde sagen, die Quote ist fifty-fifty. Ich pendle weniger als früher, kann aber auch über Kleinigkeiten eine Geschichte schreiben. Manchmal besteht die Kolumne ja auch einfach daraus, mir Gedanken darüber zu machen, was hätte gewesen sein können.
Sie fahren auch Tram und Bus: Erkennen Sie Verhaltensunterschiede im Vergleich mit dem Zug?
Das Tram und auch der Bus haben natürlich mehr Stationen, man hält sich nur kurz dort auf. Ein Gemeinschaftsgefühl stellt sich eher weniger ein, die Leute breiten sich aber auch weniger aus.
Im Pendlerknigge finden sich auch Spieltipps für den Reiseweg und Postkarten, die man Mitreisenden in die Hand drücken könnte. Haben Sie selbst schon davon Gebrauch gemacht?
Das «Aus-dem-Zug-schau-Spiel» mache ich oft mit meinen Kindern. Dort erhält Punkte, wer die im Spiel enthaltenen Objekte als Erster sieht – ein gelbes Auto zum Beispiel oder eine Person mit Gartenschlauch. Die Karten hingegen habe ich selbst noch nie verwendet. Vor allem jene mit dem Text «Sie sitzen im Ruhewagen» fände ich aber praktisch, denn dort darf man ja nicht sprechen, um jemandem mitzuteilen, dass er nicht sprechen darf…
Wenn Sie Ihre Botschaft in einem Satz zusammenfassen müssten, wie würde der lauten?
«Seid lieb miteinander». Ah ja, eins noch. Wenn der Busfahrer oder Tramchauffeur durch den Lautsprecher «Adieu mitenand» sagt oder die Leute anspricht – hey, gebt doch eine Antwort. Da fällt niemandem ein Zacken aus der Krone. Ich freue mich immer, wenn Menschlichkeit zu spüren ist.
«Pendlerknigge – 99 Gebote für den ÖV»
Franziska von Grünigen, die Autorin des «Pendlerknigge – 99 Gebote für den ÖV» schrieb unter dem Pseudonym «Katja Walder» für den «Blick am Abend» – bis zu dessen Einstellung am 21. Dezember 2018 – die ÖV-Kolumne «Abgefahren». Die Geschichten sammelt sie übrigens vor allem auf der Strecke Winterthur–Oerlikon, also Obacht, wenn Sie selber dort unterwegs sind… Seit Ende Januar finden ihre Fans neue Beiträge online in den SBB-News. Der heitere «Pendlerknigge» mit Illustrationen von Daniel Müller ist in der Beobachter-Edition erschienen, umfasst 180 Seiten, und ist für circa 29 Franken im Handel erhältlich. Sie haben selber etwas Abgefahrenes im ÖV erlebt? Dann erzählen Sie es «Katja Walder» via WhatsApp (077 492 25 71 - Audiomessage oder Text) oder über ihre Website.