Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Autor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Der Stauffacher – gerade im Umbau, und deshalb eine Art Erinnerungsruine.
Mittwoch, 20. September, 11. 57 Uhr. Tramhaltestelle Stauffacher.
Manche mögen es unheimlich finden. So weit würde ich noch nicht gehen, doch etwas seltsam finde ich es schon auch. Dass sich bislang jeder Beitrag dieser «Innehaltestelle»-Serie mit meiner Vergangenheit beschäftigte; mal früher und mal später im Text, mal ausufernder und mal knapper – dass sich aber noch keine einzige der Kolumne um die Zukunft kümmerte und scherte; sei es konkret die meinige, oder, allgemeiner, jene der irdischen Menschheit.
Um es gleich vorwegzunehmen – daran wird sich leider auch heute nichts ändern. Nach dem Flashback in Wollishofen über Wollishofen vom 20. August gibt es nun eine Art Flashback am Stauffacher über Wollishofen vom 20. September … wobei das jetzt viel dramatischer klingt, als es tatsächlich ist: Erstens ist das mit dem Zwanzigsten purer Zufall, zweitens spielt das Quartier in der heutigen Folge, passend zu seiner peripheren Lage, einen bescheidenen Part, und drittens ist es auch keine radikal persönliche Nabelschau, nein, da treten Nebendarsteller auf, solche in zweibeiniger und solche in zweirädriger Gestalt.
Jedenfalls stand ich da so irgendwie beiläufig am Stauffacher – oder besser: auf der Grossbaustelle mit diesem Namen –, verspürte spontan ein Hüngerchen, und betrachtete das vorhandene Take-Away-Angebot in meinem direkten Blickfeld: Coop, Starbucks, Not Guilty – und mitten drin der McDonalds. Zeitgeist-moralisch formuliert: Das Verhältnis von mehr oder weniger «gesunder» zu mehr oder weniger «ungesunder» Nahrung betrug etwa 77:23. Dennoch holte ich mir ein «Fischi» (wie wir das Ding ursprünglich nannten), beziehungsweise ein «Filet-o-Fish» (wie es offiziell heisst), sprich das 1962 lancierte, erste Nicht-Fleisch-Gericht von McDonalds.
Rösti verbrennt Hamburger!
Dieser seitens der Leserschaft wahrscheinlich nur schwerlich verdaubare Entscheid («Nei aber au, so hätten wir diesen Herr Wyss nicht eingeschätzt, der wirkte doch eigentlich immer recht vernünftig, also zumindest so linksorientiert, also jedenfalls Amerika-kritisch, das ist jetzt schon eine kleine bis mittlere Enttäuschung, also würkli) hat natürlich einen Grund. Und der liegt tief in den 80er-Jahren.
Ältere Semester dürften sich erinnern, jüngeren sei es hier freundlich gesagt – genau, damals war Zürich geprägt von heftigen politischen Jugendunruhen: Es traf die linke, vom Punk befeuerte Ideologie auf das bürgerliche Establishment, es ging um den Kampf für alternative Freiräume wie das AJZ und die Rote Fabrik und gegen hohen Kredite für die sogenannt «elitäre» Kultur des Opernhauses, es gab Krawalle, Strassenschlachten und Verletzte. Ja, und mitten in diese pfefferscharfe gesellschaftliche Situation hinein eröffnete mitten in der Stadt – also am Verkehrsknotenpunkt Stauffacher – die Fast-Food-Kette McDonald’s ihre erste Zürcher Filiale.
Es war nicht die allererste Dependance in der Schweiz, die wurde bereits 1976 in Genf eröffnet – und im international geprägten Diplomaten-Klima störte sich niemand gross an dieser amerikanischen Gastro-«Invasion». In Basel, wo 1979 der erste McDonalds der Deutschschweiz lanciert wurde, ging es dann bereits weniger harmonisch zu und her, und ganz anders wars weitere zwei Jahre später in der jugendbewegten Limmatstadt: Als vermeintlich allmächtiger Weltpolizist waren die USA hier grundsätzlich nicht allzu populär, der Schnellimbiss wurde generell als (Pfui-)Teufelszeugs abgetan, und die Kombi von beidem beflügelte den damaligen SP-Gemeinderat Moritz Leuenberger zur Aussage, die hiesige McDonalds-Filiale sei «ein kulinarischer Affront gegenüber jedem halbwegs kultivierten Mitteleuropäer».
Mag sein, dass dieser flammende Appell des späteren Bundesrates mit dazu führte, dass auf den Fast-Food-Ableger am Stauffacher im Juli 1982 tatsächlich ein Brandanschlag ausgeübt würde – von einer militanten 80er-Jahr-Gruppierung namens «Grober Ernst», was den «Blick» zur pseudo-originellen Schlagzeile bewegte: «Rösti-Liebhaber steckten Hamburger-Laden in Brand».
Das Abenteuer duftete nach Frittier-Öl
So, und hier treten nun mein damals bester Kumpel Üse (Original: Urs) und ich in diese Kolumne ein – zwei aufgeweckte und im Rahmen des Möglichen rebellische «Sürmel» aus dem Stadtrandquartier Wollishofen, die beide in die gleiche Sekundarschule-Klasse gingen, die beide ähnlich frisierte und deshalb ähnlich schnelle, aber auch ähnlich uncoole Puch-Maxi-Töffli hatten (die Lässigen fuhren einen «Ciao» aus dem Hause Piaggio), und die beide Sachen mochten, die a) nach Abenteuer und b) nach verboten rochen.
Deshalb war natürlich die Neugier geweckt, als der perfide Ronald McDonald Downtown (damals noch ohne Switzerland) einen eröffnete – der, das machte es noch spannender, selbst von den leicht älteren «Krawallbrüdern» unseres Schulhauses verbal angefeindet wurde. Hinzu kam, dass es strikt untersagt war, in der Mittagspause das Quartier zu verlassen ¬– die Badi Wollishofen oder der Entlisbergwald waren okay, ein Ausflug in die City jedoch war strikt tabu.
Ja, und so stand bei Üse und mir bald diese eine, sehr konkrete Frage im Raum: Würden wir es mit unseren getunten «Maschinen» schaffen, binnen 45 Minuten vom Schulhaus Hans Asper zum Stauffacher zu rasen, dort erstmals in unserem Leben offiziell amerikanischen Fast-Food zu vertilgen, zurück zur Schule zu düsen, und ohne erwischt zu werden rechtzeitig im Geographie-Unterricht zu hocken? Ich glaubte daran, Üse zweifelte, war jedoch selbstverständlich bereit, eine allfällige Kollektivstrafe in Kauf zu nehmen. Es war ein sommerlicher Donnerstag – ein paar Monate nach der Eröffnung, ein paar Monate vor dem Brandanschlag –, als wir die «MM» (Mission McDonalds; es war unser Spleen, jedes widersinnige Unterfangen als «Mission» zu betrachten) antraten.
Bei der Hinfahrt in Richtung Kreis 4 überfuhren wir am Waffenplatz ungeahndet ein Rotlicht. Im «Mac» – so hiess der im strassenkredibilen Jugendjargon schon damals – bestellte ich einen Cheeseburger, ein Filet-O-Fish und einen Vanille-Shake, Üse orderte keck das «Flagschiff» namens Big Mac und einen Erdbeer-Shake, zusätzlich teilten wir eine mittlere Portion Pommes-Frites mit Ketchup und Mayo; ich werde diese erste und damit quasi-historische Bestellung nie mehr vergessen.
Wir assen und tranken den Food so, wie man ihn laut seiner Selbstcharakterisierung essen und trinken soll – also schnell. Danach stürmten wir aus dem Lokal, schwangen uns auf die Töffli und rasten zurück in den Kreis 2 – diesmal verkehrstechnisch übrigens absolut einwandfrei – und schafften es grad noch rechtzeitig ins Klassenzimmer und an unser Zweierpult; da dieses in der hintersten Reihe stand, bemerkten zwar gewisse Schulkameraden, nicht aber Lehrer Buchmann, wie eklig wir nach Frittier-Öl mieften (für uns war das natürlich der verwegene Duft des geheimen Abenteuers, aber was wussten die Nilpen schon!).
«Eigentlich war der unerlaubte Ausflug Lausbubenzeugs für Fortgeschrittene; nicht weniger, aber sicher auch nicht viel mehr.»
Plötzlich hiess es: «America first!»
Eigentlich war der unerlaubte Ausflug Lausbubenzeugs für Fortgeschrittene; nicht weniger, aber sicher auch nicht viel mehr. Dennoch entfaltete der Schnellimbiss – nicht die Burger selbst, eher das ganze Drumherum – eine verblüffende Langzeitwirkung (die, wie man dieser Story entnehmen kann, noch immer lodert) … und zwar in Form einer «Horizonterweiterung».
Expliziter gesagt: Was die meisten Zürcher Teenies damals cool fanden, waren der mediterrane Lifestyle, die britischen Sounds, der südamerikanische Fussball. Kulturelle oder sportliche Werte aus den USA aber liess frau und man(n) in jenen früher 80er-Jahr-Tagen (noch) links liegen. Nicht so Üse und ich: Bei uns hiess fortan, inspiriert durch dieses Fast-Food-Intermezzo, urplötzlich: «America first!».
Autos und Motorräder, Filme und Musik, Kunst und Klamottenmarken – wir orientierten uns fast tunnelblickmässig ennet dem grossen Teich, wurden damit rasch zu (noch) belächelten Nerds … doch spätestens als wir die zwei ersten im ganzen Schulhaus waren, die den kultigen Hip-Hop- und Graffiti-Streifen «Wild Style» gesehen hatten und damit bluffen konnten, änderte sich unser sozialer Status rapide, wir wurden zu einer Art «Trendsetter» (trotz Puch-Maxi-Schnäpper!!!), die man trotz aller Skepsis beinahe ein wenig bewunderte, die man jetzt ab und zu um Rat fragte (was allerdings nicht lang anhielt; für solche Rollen muss man geschaffen sein, bei uns war dies nicht der Fall).
Dennoch: Es waren fast magische Tage! Und die verdanken wir primär dem guten alten Stauffacher (und dem etwas weniger guten und etwas weniger alten McDonalds), ich werde das den beiden nie mehr vergessen!