Züge mit «Charakter»

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Orten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute stellt uns Yarima Stark die Besonderheit der neuen Züge der Appenzeller Bahnen vor.

Hügelige Weidelandschaft, verstreute, regionaltypische Bauernhäuser und imposante Gebirgsketten prägen das Bild des Appenzellerlandes. Ein weiteres Merkmal ist die rote Appenzellerbahn, die sich durch Teile des Kantons St. Gallen und die beiden Halbkantone Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden schlängelt. Eben jene traditionelle Bahn, die seit 1875 existiert, hat sich nun auf eindrückliche Art «erneuert», sprich sie weiht seit Sommer 2018 laufend 16 neue Züge mit den verheissungsvollen Namen «Tango» und «Walzer» ein. Während die etwas schmaler gehaltene «Tangolinie» von Trogen bis Appenzell verkehrt, decken die fünf Kompositionen der «Walzerlinie» die Strecke zwischen Gossau und Wasserauen ab.

Die Besonderheit verbirgt sich im Inneren

Wie jedes Jahr habe ich die Weihnachtstage bei meiner Familie im Ausserrhodischen Urnäsch verbracht. Da dort die neuerdings schwarz-rote Bahn im Halbstundentakt ein- und ausfährt, war es die perfekte Gelegenheit, um damit einen Ausflug durch das damals leider noch kaum verschneite Appenzellerland zu unternehmen. Im Fokus stand aber nicht etwa die schöne Aussicht aus den Panoramafenstern: Jeder Zug der «Walzerlinie» hat nämlich seinen ureigenen Charakter in Form eines traditionellen Appenzeller Volksbrauchs erhalten; konkret repräsentieren diese sogenannten «Charakterzüge» das «Silvesterchlause», das «Bloch», die «Alpfahrt», den «Betruef» und die «Alpstobete». Von aussen mögen alle Fahrzeuge gleich aussehen – die Besonderheit aber verbirgt sich im Inneren.

Was beim Einsteigen direkt ins Auge fällt, ist die Türe zum Führerstand, die in jedem der fünf «Charakterzüge» mit einer grossformatigen Fotografie einer Appenzeller Tradition verziert wird. Eine weitere Einzigartigkeit lässt sich an den Sitzplätzen finden: An jedem Sitz wurde ein Etikett angebracht, das mit einem zum jeweiligen Brauch passenden Wort – selbstverständlich im Appenzeller Dialekt – bestickt ist. Vorab konnte die Bevölkerung im Rahmen des Wettbewerbs «Wa chonnt der in Sinn?» Vorschläge für die brauchtumstypischen Ausdrücke einreichen. Insgesamt gingen 790 Begriffe ein. Hans Hürlemann, Appenzeller Brauchtumsspezialist aus Urnäsch und ehemaliger Sekundarschullehrer meiner halben Familie, erhielt dann den Auftrag, pro «Charakterzug» acht bis zehn der meistgenannten Brauchtumswörter auszuwählen.

Speziell gestaltet sind auch die Sitzpolsterstoffe – Muster und Farbgebung sind nämlich in den traditionellen Appenzeller Trachtenfarben Rot, Grün und Gelb gehalten. Und wer denkt, dass die Kreuzchen an den Windfangscheiben wahllos getroffen wurden, der irrt: Sie helfen mit, die Konturen der Bergreliefs zu erkennen (gewisse Vorkenntnisse sind allerdings schon notwendig). Selbst ans stille Örtchen wurde gedacht: In jedem der fünf Fahrzeuge verschönert eine Landschaftsaufnahme den Ausblick auf die Kabineninnenwand.

Die Appenzeller Volksbräuche

Für alle jene Leserinnen und Leser, die bei den zuvor erwähnten Appenzeller Bräuchen nur Bahnhof verstanden haben, liefern wir hier die passenden Erläuterungen nach.

«Silvesterchlause»

Beim Winterbrauch «Silvesterchlause», der in Ausserrhoden gelebt und gepflegt wird, geht es darum, das neue Jahr gleich zweimal einzuläuten – jeweils am 31. Dezember und am 13. Januar (es sei denn, dieser fällt auf einen Sonntag, dann wird am Vortag gefeiert): Dabei ziehen vom Morgengrauen bis tief in die Nacht Silvesterchläuse in ihren «Schuppeln» – einheimisch für «Gruppen» – von Hof zu Hof und wünschen den Familien ein gutes neues Jahr. Im Kreis aufgestellt bewegen sie dann rhythmisch die zur Verkleidung gehörenden «Schellen» und stimmen ein «Zäuerli» – eine Gesangsform aus der Alpsteingegend – ein. Die Silvesterchläuse lassen sich in drei Gruppen einteilen: Die «Schöne», «Schö-Wüeschte» und «Wüeschte». Erstere zeichnen sich durch ihre kunstvollen Samttrachten und ihre aufwändig von Hand hergestellten Hauben und Masken aus. Die Trachten der «Schö-Wüeschte» sind zwar ebenfalls sorgfältig und stilvoll gestaltet, bestehen jedoch aus Naturmaterialien. Der dritte Chlausentyp – die «Wüeschte» – wirken «gfürchiger» und imposanter. Sie hüllen sich ebenso in alles, was Mutter Natur zur kalten Jahreszeit hergibt – seien es Tannzweige, Eicheln, Moos oder Stroh – und verdecken ihr Antlitz hinter einer dämonischen Larve aus Pappmaché.

«Alpfahrt»

Die «Alpfahrt», auch «Öberefahre» genannt, beschreibt die alljährlichen Alpauf- und Alpabfahrten. Bei Sommerbeginn ziehen die Sennen mit ihrem «Vech» auf die Alp und kehren im Spätsommer auf die gleiche Weise wieder zurück ins Tal. Die von traditionellen Klängen begleitete, bunte «Alpfahrt» wird von den weissen Appenzeller «Gäässen» und von in Trachten gehüllten Kindern, die die Ziegen im Zaum halten, angeführt. Darauf folgen die Sennen mit ihren Kühen, Rindern, Kälbern, dem Stier und die von einem Pferd gezogene «Ledi». Das ist die einheimische Bezeichnung für einen zweiachsigen Holzwagen, auf dem sämtliche auf der Alp benötigten Gerätschaften transportiert werden. Der Viehbesitzer selbst macht – stets von seinem «Bläss», dem Appenzeller Sennenhund, begleitet – den Abschluss der Alpfahrt.

«Bloch»

Jedes zweite Jahr wird am Fasnachtsmontag, welcher 48 Tage vor dem Ostersonntag gefeiert wird, ein ominöser Baumstamm durch die Ausserrhoder Dörfer Hundwil, Stein, Waldstatt und Urnäsch geschleppt. Das «Bloch», wie dieser fünf bis sechs Meter lange Fichtenstamm genannt wird, wird von Männern, die unter anderem als Förster, Zimmerleute, Bauern und Holzer verkleidet sind, auf einem festlich geschmückten Wagen gezogen. Am Ende dieses Volksbrauchs, genauer gesagt um 17 Uhr, steht die Versteigerung des «Blochs» auf dem Urnäscher Dorfplatz. Der volkstümliche Brauch rührt aus alten Erzählungen her, dass der Waldbesitzer seinen Arbeitern jeweils den letzten Baumstamm, den sie zwecks winterlicher Brennholzversorgung geschlagen hatten, als Lohn für ihren Fleiss schenkte. Zugleich symbolisiert das «Bloch» den nahenden Frühlingsbeginn.

«Betruef»

In den Sommermonaten vor allem in Appenzell Innerrhoden anzutreffen – oder besser zu hören – ist der «Betruef». Er beschreibt einen Alpsegen, der aus dem religiösen Brauchtum Innerrhodens stammt und seine Wurzeln in der katholischen Gebetstradition hat. Das Gebet wird jeweils am Abend von einem Sennen gesungen und dient dem Schutz der Älpler mitsamt ihrem Vieh. Für den «Betruef», der sich als eine Art Sprechgesang einordnen lässt, stellt sich der Senn auf eine Anhöhe seiner Alp und formt mit seinen Händen einen Trichter oder nimmt einen geschnitzten Holztrichter vor den Mund, um den Segen über die Weiten der Berglandschaft zu tragen.

«Alpstobete»

Schwung und Gesang sind die zentralen Eigenschaften der sogenannten «Alpstobete»: In der Mitte des Alpsommers findet – meist unter freiem Himmel durchgeführt – auf verschiedenen Alpen des Appenzellerlandes dieses volkstümliche Fest statt. Dabei vollführen in traditionelle Trachten gekleidete Sennen und Frauen, angetrieben von lüpfiger einheimischer Volksmusik, eindrückliche Volkstänze.

Das Fazit? Ich finde es eine gelungene Idee, die im Appenzellerland gelebten Brauchtümer in der Bahn umzusetzen und sie somit den Fahrgästen, ob mit den Traditionen bewandert oder nicht, näher zu bringen. Grafisch und gestalterisch wurden die alten Bräuche wirklich schön in die Welt der modernen Züge übertragen und verhelfen – nebst der schönen Aussicht – zu einem besonderen Fahrerlebnis.

Mein persönlicher «Lieblingsbrauch» ist übrigens das «Silvesterchlause»: Die geschmückten Silvesterchläuse zogen mich schon als Kind in ihren Bann und machten den Besuch bei meinen Grosseltern zur Krönung des Jahresendes. Und auch heute noch empfinde ich ein wohliges Schaudern, wenn im Dunklen des Silvestermorgens das «Zäuerli» eingestimmt wird.

Alles rund um die «Charakterzüge»

Sie möchten gerne mehr über die fünf «Charakterzüge» erfahren? Brauchtumsspezialist Hans Hürlemann erklärt auf appenzellerbahnen.ch und im Magazin der Appenzeller Bahnen «Unterwegs» auf den Seiten 8 bis 13 der Ausgabe 16 die Brauchtümer und deren zugehörigen Begriffe.

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