Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Das Lochergut – da, wo alles begann (Prolog).
Donnerstag, 13. April, 15.37 Uhr. Tramhaltestelle Lochergut (Hochhausseite).
Der 2er war vor einer knappen Minute abgefahren, der nächste würde in sieben Minuten einfahren. Taktfahrplan eben. Und davor oder dazwischen – welche Variante man wählt, liegt wohl auch daran, welche Grundhaltung man gewählt hat, also ob man lieber seinen individuellen Charakter betonen möchte (dann wärs davor) oder sich eher als Teil einer Dichtestressgesellschaft sieht – käme dann noch der 3er.
Aber das alles war mir eigentlich völlig egal. Ich musste nämlich weder Richtung Altstetten noch Richtung Albisrieden. Und genauso wenig Richtung Stauffacher oder zum HB. Wobei ich für dahin eh auf der falschen Seite gestanden wäre, lucky me, musste ich nicht dahin …
… handkehrum, dachte ich, wieder mal einfach auf einen Zug zu rennen und einzusteigen, ohne zu schauen, wohin er fährt, und ohne Billett, und dann irgendwo auszusteigen, und in einer fremden Beiz voller fremden Menschen einen Wurstkäsesalat zu essen, und Bier zu trinken, und in der Lokalzeitung fremde Unfälle und Verbrechen nachzulesen, und Stunden später, nach dem Dorf- oder Stadtspaziergang und dem einen oder anderen Absacker, mit der letzten Bahn heim zu gondeln, das wär schon abenteuermässig …
… handkehrum, dachte ich gleich danach, so kurz vor Ostern und den Frühlingsferien, all die Wagons voller Kindergebrüll-Kanons, Rollkoffer-Karambolagen, Stinksockenmief-Attacken und Alufoliensandwich-Gelagen, danke mässi, da bleibt mir Lust glatt im Halse stecken …
… geht das überhaupt, war dann der nächste Gedanke, so körpertechnisch betrachtet, mein ich – dass einem Lust im Halse stecken bleibt? Und, genauso wichtig: Ist die Hand nach zweimal handkehrum eigentlich wieder in der Ausgangsposition? Oder gebrochen? Nun denn, wie eingangs gesagt, all das war mir eigentlich völlig egal.
Kein Sleep-In auf der Strasse
Dass ich am Gründonnerstag kurz nach halb vier Uhr auf dem Lochergut-Perron stand, hatte nämlich keine transporttechnische-, sondern eine sicherheitstechnische Ursache. Es ging konkret darum, nicht von einem Lastwagen, Taxi/Uber, Freizeit-Valentino-Rossi oder E-Bike-Raser ins Krankenbett oder an endgültigere Orte verfrachtet zu werden. Blöderweise war ich nämlich (haben Sies bemerkt? Schon wieder «nämlich»! Nicht, zufällig, nein, absichtlich! Ich mag das Wort. Sein mimisches Äquivalent ist das aufgesetzt empörte Gesicht, das von einem feinen Zucken der Mundwinkel begleitet wird – grandios!) kurz zuvor durch eine Bierbuddel gefahren (sie stammte aus dem Hause Turbinenbräu, doch das tut diesmal – diesmal! – nichts zur Sache), die zerschlagen in viele hundert Scherben auf dem Velostreifen lag. Wobei es beim Entweichen der Luft aus dem Pneu einen schussartigen Knall gab, der mich so sehr erschreckt hatte, dass ich beinahe gestürzt wäre – was kurz danach wahrhaftig passierte, da ich ja nun auf den Felgen rollte und dabei die Balance verlor. Ja, und so mitten auf der Strasse wollte ich nicht liegen bleiben. Das wäre anno 1967, als moderne Protestformen wie Sit-Ins oder Stand-Ins oder Sleep-Ins in Mode kamen, und auf dem Asphalt herumliegende Menschen deshalb nichts wirklich Abartiges mehr waren, noch möglich gewesen, doch heutzutage, uiii nei! das wäre viel zu gefährlich.
Deshalb rettete ich mich dann eben leicht schockiert auf den nun schon zum dritten Mal erwähnten Tramsteig beim Lochergut.
Et voilà, damit wären wir wieder da, wo alles (auch diese Story) begann. Wo ich also dastand und bemerkte, dass der 2er abgefahren war – inzwischen wäre das bestimmt schon zwei Minuten her – und dass der nächste demzufolge in sechs Minuten einfahren täte, und dass davor oder dazwischen, je nach Attitüde, eben noch ein 3er käme.
Das klingt irgendwie verdächtig routiniert, nicht? Nach einer ganzen Menge Lochergut-Perron-Erfahrung und so. Unter uns: Sie haben absolut Recht! Ich stand fürwahr nicht erstmals da, im Gegenteil: Gefühlt waren es summa summarum weit über 900. Und nähme man die gegenüberliegende Seite hinzu, würde die Zahl gar mehr als doppelt so gross, da stand ich nämlich noch viel öfters. Und das nicht wegen eines Spleens oder gar einer seltsam gearteten «Objektliebe» zu diesem Tramhäuschen oder Ticketautomaten, nein, der Grund war ein ganz profaner – nämlich die wenige hundert Meter entfernte Wohnung.
Augen auf und durch
Umso schlimmer, dass mir das bis dahin nie aufgefallen war. Ich meine diese immense Vielfalt! Als fiele es mir wie Schuppen vor den etwas kurzsichtig gewordenen Augen, erkannte ich in jenem Moment grad zum allerersten Mal, was für ein krass-konkreter Ort dieses Lochergut ist, ja noch besser: immer schon gewesen war. (Und ich schwöre es hoch und heilig: mit diesem «Green Passion»-Shop, also dem ersten legalen Hanfladen der Schweiz, der sich ebenfalls am Lochergut befindet, hatte diese Epiphanie-ähnliche Entzückung nichts zu tun – abgesehen vom Velosturz-bedingten Adrenalin waren da keine bewusstseinsverändernden Stimulanzen im Spiel, das war voll hyperreal!)
Um die Faktentreue hochzuhalten, werde ich das, was mir während dieser Erkenntnis wohl etwa 45 Sekunden lang durch den Kopf schoss, genauso chaotisch (und nur durch Gedankenstriche getrennt) wiedergeben, wie es tatsächlich ablief.
Diese Häuser wurden im selben Jahr gebaut, in dem ich zur Welt kam. Man nannte sie damals «Schandfleck», und bei mir sagten die Leute, die um die Wiege standen, «Jöööh»! Womöglich würde das Urteil heute spiegelverkehrt ausfallen – – – Hat nicht Phenomden einen Mundart-Reggae-Song übers Lochergut gemacht? Oder wars über ganz Wiedikon? – – – Ach, die gute alte Meyer’s Bar. Wird sie dereinst in die Geschichtsbücher eingehen? Und falls ja, mit welchen Worten? Ich würde glaub beim Konkurs ins Kondolenzbuch schreiben: «Trank hier Rum Cola mit Kommissar Strähl und hatte mal Koitus auf dem Klo. War ein guter Ort.» – – – Hier fahren alle GC- und alle FCZ-Fans durch, die per Tram in den Letzigrund gehen. Eine Verbrüderung der speziellen Art? Nein, sie fahren nie mit-, sondern immer nacheinander, um eine Woche zeitversetzt – – – War das nicht der erste Coop der Stadt, der als Test bis 21 Uhr geöffnet hatte? – – – Da, wo nun das zweite Lily’s asiatische Speisen auftischt, wurden früher asiatische Erotikfilme verkauft; andere Zeiten, andere Sitten – – – 1967 passierte doch im Lochergut der erste Schwulenmord von Zürich, ein junger Lehrer wurde schrecklich gemeuchelt. Und zur selben Zeit wohnte da auch Max Frisch, es gibt tolle Schwarzweissfotos im Netz, wo er in einer spartanisch eingerichteten Wohnung an der Schreibmaschine hockt. Was er wohl tippte? – – – Wo ich meine erste Kamera kaufte, weiss ich nicht mehr. Aber wo ich meine erste Kamera verkaufte, werde ich nie vergessen: Es war im Foto-Ernst am Lochergut. Ich war Student und hatte kein Geld mehr, ein Versicherungsbetrug (fingierter Velodiebstahl) lag nicht nochmals drin, also verscherbelte ich da meinen Minolta-Apparat für 100 Stutz; das Lochergut hatte ich damit nie fotografiert – – – Ah, nun weiss ich, was Frisch da oben schrieb, 1967: Es war das Theaterstück «Biografie. Ein Spiel», das 1968 am Pfauen aufgeführt wurde, und das bei der Kritik und beim Publikum durchfiel. Lags am Karma der Häuser? – – – Früher rollte auf der Sihlfeldstrasse zwischen Bullingerplatz und Lochergut täglich eine die Luft verpestende Blechlawine durch, heute ist das Zürichs sinnlichste Allee … Stadtplanung funktioniert manchmal eben doch – – – Ein paar Dekaden nach Frisch wohnte Pipilotti in seiner einstigen Wohnung, und ihr Bruder Tom Rist, der vom Helsinki und dem Bundeshaus Wiedikon, brachte da ab und zu Musiker unter. Schade, geht das Bundeshaus zu Wiedikon jetzt zu, auch ein feiner Ort. Allerdings weiss ich noch nicht, was ich da ins Kondolenzbuch schreiben werde – – – Am Lochergut hatte ich einst die grösste Schneeballschlacht meines Lebens, es war ein plötzlicher und extrem heftiger Wintereinbruch im März, der öffentliche Verkehr war lahmgelegt, und es waren sicher 100 erwachsene Frauen und Männer, die sich morgens um drei Uhr quietschfidel mit weichen Schneekugeln bewarfen … ja, so geht Urbanromantik – – – Der einzige Künstler, den ich persönliche kenne, der heute noch im Lochergut wohnt, ist Larry Bang Bang. Der Kerl hat grad ein originelles Album namens «I, Import-Export Mariachi» veröffentlicht – – – Ich kann nur sagen: «Lochergut, mon amour» (hatte ich das nicht schon mal übers Bellevue gesagt? Ach, egal).
Wow, ja. Da war wirklich soooo viel, es war fast too much.
Und alles, was es brauchte, um das zu sehen, vor dem inneren und mit dem äusseren Auge, war ein Innehalten, oder im meditativen Jargon gesagt: Ein modernes ZEN (Zuschauen, Entspannen, Nachdenken). Und weil das gut tat und Freude machte, werde ich das fortan regelmässig tun: An eine Haltestelle fahren, aussteigen, innehalten – und darüber berichten, ein- bis zweimal pro Monat. Der passende Name für diese Serie? Klar: «Innehaltestelle».