«Wo wir fahren, lebt Zürich»: Unser Versprechen gilt in guten Zeiten und auch in diesen. Zürich lebt, auch wenn es gerade etwas aus dem Takt gekommen ist. Darüber, wie es unserer Stadt und ihnen so geht, erzählen Zürcherinnen und Zürcher gemeinsam mit uns in der Serie #sogahtsZüri. Heute geht es um etwas, das alle Zürcherinnen und Zürcher aufstöhnen lässt: Das Sechseläuten fällt aus – diese Nachricht traf unsere Stadt zu einem Zeitpunkt, als der Hauptprotagonist des Fests, der «Böögg», bereits im Entstehen begriffen war. Wir haben den Erbauer des berühmten Zürcher Schneemanns, Dekorationsgestalter Lukas Meier, gefragt, was denn nun mit dem Helden geschieht.
Man stelle sich vor, Meister Gepetto wäre seinerzeit durch widrige Umstände, einen hinterlistigen Virus etwa, daran gehindert worden, seinen hölzernen «Sohn» Pinocchio fertigzubauen, ihm Leben einzuhauchen. Was für ein Verlust für all die Kleinen, denen die Abenteuer der Marionette Freude ins Kinderzimmer gebracht haben!
Was dem Vater des hölzernen Knaben erspart blieb, erlebt gewissermassen derzeit in Zürich ein Dekorationsgestalter, der weit mehr als eine Dekoration herstellt: Lukas Meier ist der Erschaffer von Zürichs bekanntestem Märtyrer, besser bekannt als «Böögg». Seit 1902 erhebt sich dieser alljährlich zum Sechseläuten hin wie ein Phönix aus der Asche, um sich für möglichst schöne Sommermonate zu opfern. Dieses Jahr hätte das Fest am 20. April stattgefunden, also wie immer am dritten Montag des Monats. Es ist ja buchstäblich so, dass der «Böögg» für diese Stadt brennt, ebenso für ihre Einwohnerinnen und Einwohner. Bei so viel inniger Liebe ist es nur logisch, dass auch der feurige Schneemann als Vorbild und zum Schutze der Zürcherinnen und Zürcher in der aktuellen Situation daheim bleibt – der Zürcher Brauch wurde dieses Jahr abgesagt.
Wer sich nun vorstellt, die Gallionsfigur des «Sechseläuten» würde ein Jahr lang Pfeife rauchend in der guten Stube von Papa Meier sitzen und die aktuellen Tagesnachrichten kommentieren oder aber zum ersten Mal in der Geschichte in der Badi Frisbee spielen, sehe sich getäuscht. Nicht nur, weil Meiers ihr Zuhause als Nichtraucherhaushalt führen. «Ich falle in eine tiefe Depression, wenn ich ein Jahr lang keinen Böögg bauen kann», grübelt Meier, «deswegen muss ich die Arbeit nun halt auf zwei Jahre aufteilen.» Sagt’s, und tätschelt des Schneemanns Bauch, der entsprechend dem überdurchschnittlich warmen März nur wenig schneebedeckt ausfällt und vielmehr in brauner Jute daherkommt.
Sommerschlaf im gut gehüteten Kämmerlein
Dabei ist es erst das fünfte Mal, an dem der 48-jährige hauptverantwortlich den grössten aller Schneemänner erschafft. Eine Herzenssache für ihn, der schon als vierjähriger Knirps am Umzug mittrottete. Meier runzelt die Stirn: «Das ist so traurig für all diese Kinder, die es nun verpassen – das schönste Fest im Jahr!». Streng genommen ist er schon seit 12 Jahren an der Entstehung des Bööggs beteiligt, ging er doch sieben Jahre lang bei Vorgänger Heinz Wahrenberger «in die Lehre», welcher nach 50 Schneemännern sein Ziel erreicht hatte und sich zur Ruhe setzte. Heute, am Tag unseres Besuchs Mitte März 2020, wird auch Meier vorübergehend die Arbeit niederlegen und das hundert Kilo schwere, halbfertige Kind im Lager einmotten. Was der Strohmann wohl sagen würde, wenn er denn sprechen könnte? «Er wäre schockiert», ist sich sein Erbauer gewiss, und umrundet den halbfertigen Riesen. «Vielleicht mache ich ihm noch ein paar Arme», überlegt Meier und zuckt mit den Schultern.
Bedenken, wonach der hilflose Wettermacher im Embryonalstadium erneut – wie im September 2019 – Entführern zum Opfer fallen könnte, hat der Handwerker keine. «Sein Refugium ist streng geheim», schmunzelt er. Nur ein paar Kinder kennen das Versteck, aber sie verraten nichts. Wir vermuten, dass der Ort ausserdem mit Fallen ausgerüstet ist, in der Art wie jene, über die schon die Jäger des verlorenen Schatzes gestolpert sind.
Ohnehin würde sich der Spass in Grenzen halten. Was dem Böögg seinen explosiven Charakter verleiht, sind die 140 Knallpetarden, die er üblicherweise enthält. Momentan aber ist er sanft wie ein Lamm, denn geladen wird er erst kurz vor dem Sechseläuten. Im kommenden Jahr, wenn die stabile Holzkonstruktion – oder besser gesagt, der Bausatz mit den Augen – wieder das Tageslicht erblickt, wird der mit Holzwolle gefüllte Rumpf mit Papiermaché überkleistert und mit Watte überzogen, dann bekommt er einen Hals, das obligate Krawättli und natürlich den Kopf mit Pfeife und Hut. 50 Stunden dauert die Arbeit vom ersten bis zum letzten Handgriff.
Die Vorfreude zieht sich jetzt etwas länger hin
«Jeweils um halb 7 in der Früh geht es los! ». Meister Meiers Gesicht zeigt erste Anzeichen einer Vorfreude, die ein Jahr und einen Monat andauern dürfte. Zwei Kräne werden benötigt; einen, um den Böögg auf die Holzstange zu hieven, den anderen um ihn zu befestigen und auszurichten. «Schöner kann man das Sechseläuten nicht beginnen, in 13 Metern Höhe». Dort wird er dafür sorgen, dass unser Held seinen Blick auf die Kirche St. Peter richtet, damit dieser weiss, wenn sein letztes Stündchen geschlagen hat beziehungsweise wann es an der Zeit ist, in Liebe zu Zürich zu entflammen. Dann ist Meiers Arbeit getan, die Nervosität vorüber, und somit kann auch er das Spektakel entspannt geniessen. «Ich wette jedes Jahr für mich auf eine bestimmte Zeitdauer», verrät Meier und flüstert verstohlen: «Ehrlich gesagt, ich freue mich schon ein bisschen, wenns nicht allzu schnell vorbeigeht». Auch wenn es dann keinen schönen Sommer gibt? «Sie wissen ja, der Bööggbauer macht das Wetter», grinst er. Klar, schliesslich braucht es auch nicht jedes Jahr einen Hitzesommer.
In der Realität sieht es natürlich schlicht so aus, dass der Böögg bei feuchtem Wetter nicht besonders gut brennt. Und eine weitere Wahrheit ist, dass es nicht nur am Böögg alleine liegt, sondern auch an den 5000 «Holzbürdeli», die Grün Stadt Zürich vom Schnitt der Alleebäume fertigt. Selbige bestehen zu zwei Drittel aus grünem, und im obersten Drittel aus gelagertem Holz, denn «wenn die alle aus gelagertem Holz wären, würde das ja abgehen wie Zunder», meint Meier, und stöhnt: «Die muss man jetzt wohl auch alle entsorgen.»
Im 19. Jahrhundert brannte schon mal eine Influenza im Sechseläutenfeuer
Übrigens ist es auch nicht das erste Mal, dass ein Sechseläuten abgesagt wird. Während des zweiten Weltkriegs wurde auf den Umzug verzichtet und das Holz stattdessen zum Heizen verwendet. Ebenso wenig ist es neu, dass eine Epidemie Einfluss auf die Zürcher Tradition nimmt. Im 19. Jahrhundert nämlich gab es den Böögg noch nicht, da wurde alles symbolisch verbrannt, was der Bevölkerung schwer auf dem Magen lag. Beispielsweise das städtische Defizit von 1879 als Strohpuppe in Form eines alten Mannes mit Schuldensack. Oder das Abbild eines römischen Legionärs, stellvertretend für den Krieg. In den Wintermonaten der Jahre 1889/90 schliesslich wütete die «russische Grippe», ganz ähnlich wie dieser Tage der Corona-Virus. Daraufhin stellte man am Sechseläuten kurzerhand die «Influenza» auf den Scheiterhaufen. «Vielleicht sollten wir dem Böögg eine Krone aufsetzen, und so den Virus auch diesmal sinnbildlich verbrennen», knurrt Meier grimmig.
Heutzutage indes wird mit dem Sechseläuten traditionell der Winter vertrieben, und sonst nichts. Das hat natürlich dieses Jahr einen Haken: «Das Hauptproblem ist ja», seufzt Meier, «dass es gar keinen Sommer gibt, wenn der Böögg nicht verbrannt wird – aber wir wollen mal nicht allzu pessimistisch sein.»
Weitere Anekdoten rund ums «Sächsilüüte»
Noch mehr Geschichten darüber, wie es den Zürcherinnen und Zürchern in diesen Zeiten geht, gibt’s unter #sogahtsZüri. Wer selber Teil von #sogahtsZüri sein möchte, kann unter vbz.ch/sogahtszueri mitmachen.
Böögg Leiterlispiel
Traurig, dass der Böögg dieses Jahr aussetzen musste? Manchmal geht es halt ein Feld vor, und manchmal zwei zurück. Zum Trost gibt es vom Verein Böögg Bau Züri jetzt ein Böögg-Leiterlispiel mit Wissensfragen. Da fühlt man sich dem Sächsilüüte-Helden doch gleich wieder nahe.