Sternstunde einer 140-jährigen Jungfrau

Für den Blick in die Zukunft blättern wir ausnahmsweise in der Vergangenheit. Ein Horoskop aus dem Jahre 1982 verrät uns, unter welchem Stern die Züri-Linie geboren wurde.

Die Tischbomben sind verraucht, allfällige rote Neujahrs-Dessous der Alltags-Wäsche gewichen und der Zinnsoldat, der dem Einschmelzen entgehen konnte, steht wieder im Schrank. Vor uns liegt die alljährliche Aufgabe, ein Horoskop für den Stadtzürcher ÖV zu verfassen.

Hinweise auf die Zukunft liessen sich dem Vernehmen nach zwar bequem der Lektüre des morgendlichen Kaffeesatzes entnehmen, klassischerweise winkt das Schicksal aber von oben – weswegen auch wir unseren forschenden Blick gen Himmel richten und auf ein überirdisches Zeichen hoffen: Halten sich gegensätzliche Einflüsse die Waage, oder werden die kommenden Monate für den ÖV eher stier? Beim Jupiter, es ist schwer zu sagen!

Unlängst sind wir in den endlosen Gängen und Regalen unseres Archivs – Zufall oder Schicksal? – auf ein Persönlichkeitshoroskop der VBZ gestossen. Es stammte – also wohl eher Schicksal denn Zufall – aus dem Jahre 1982! Und ist somit just 40 Jahre alt! Item. Jedenfalls attestiert dieses Horoskop dem Züri-Tram – seines Zeichens eine Jungfrau – die bekannten Vorzüge dieses sehr gewissenhaften Sternzeichens. Ebenso wenig wie der Mensch, bleiben städtische Dienstabteilungen und erst recht die Fahrzeuge stehen. Diesen Gedanken zu Ende gedacht, ist aus der «Jungfrau» von 1982 unterdessen natürlich eine Dame gesetzteren Alters geworden. Höchste Zeit also, die astrologischen Vorzeichen der Zürcher Trams und Busse, vierzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen ihres Horoskops, einer Überprüfung unterziehen.

Mit dem Grossen Wagen unterwegs Richtung Zukunft

Etwa ab der Lebenshälfte, so sagt man, sollen die astrologischen Eigenschaften des jeweiligen Aszendenten die dominierende Rolle übernehmen. Im Falle der Züri-Linie ist das aber Hans was Heiri oder vielmehr Hanna was Heidi, denn wir haben es hier mit einer doppelten Jungfrau zu tun. Aufgrund ihrer Geburtszeit am 5. September 1882 um 6.30 Uhr trägt sie ihr Tierkreiszeichen nämlich auch im Aszendent.

Wie ja bekannt ist, mussten die VBZ in den vergangenen zwei Jahren wegen einer verzögerten Lieferung (beziehungsweise natürlich wegen einer schwierigen Planetenkonstellation) mittels Übergangslösung ein knapper Bestand bei den Schienenfahrzeugen überbrücken. Unsere psychologisch geschulten Leserinnen und Leser wissen es: Auf eine solche persönliche Krise folgt nicht selten ein Entwicklungssprung! Anders gesagt: Nach dieser in vielerlei Hinsicht harzigen Zeit ist jetzt der Grosse Wagen – auch bekannt unter dem Namen «Flexity» – auf der Milch-, vor allem aber auf den städtischen Strassen unterwegs. Nicht nur punkto Fahrzeuge nimmt der ÖV, beflügelt wie Pegasus, Kurs auf Richtung Zukunft. So wie der Mond um die Erde, soll ab 2050 gar ein ÖV-Ringsystem um die Innenstadt kreisen. Apropos kreisen: Das Wort «Horoskop» setzt sich anscheinend aus «hora» (für eine Stunde) und «skopéin» (für beobachten) zusammen. Jetzt stehen Sie mal an eine Haltestelle, und Sie werden feststellen, dass dort nicht nur die Stunde beobachtet wird, sondern gar die Sekunden, bis das nächste Fahrzeug kommt. Wenn man dieser Logik Glauben schenkt, gehört das Horoskop also zum ÖV wie die Ringe zum Saturn.

Puritanisch, aber dennoch kontaktfreudig

Nun aber zum astrologischen Werk von anno 1882. Dieses proklamiert, das Züri-Tram hätte in seiner Aufgabe, Verbindungen zu schaffen, mehr Unterstützung gefunden, hätte man die Einweihungsfeierlichkeiten auf 9 Uhr statt auf 6.30 Uhr in der Früh gelegt. Unabhängig davon, ob man den Zusammenhang versteht: Wer bitte feiert um 6.30 Uhr in der Früh? Niemand! Da lässt sich noch nicht einmal guten Gewissens auf das Neugeborene anstossen, das Puritanische ist also vorprogrammiert. Wobei es, um den Gedanken weiterzuspinnen, natürlich niemals der Fall sein darf, dass man ein Tram anstossen muss – das wäre ja sonst glatt ein Garantiefall! Ganz abgesehen davon handelte es sich seinerzeit noch um ein Rössli-Tram … und dessen zwei PS-starker «Motor» sprang mit einer stattlichen Portion Hafer in der Regel zuverlässig an.

Das im Jahre 1982 erstellte Horoskop attestiert dem Züri-Tram die typisch positiven Eigenschaften einer Jungfrau-Geborenen, aber auch, es sei Opfer der puritanischen und tüchtigen Mentalität der Stadt. (Bild: Zürich vom Tram aus, Verlag Neue Zürcher Zeitung).

Jedenfalls glauben wir trotzdem nicht, dass das Tram (und bitte, auch der Bus ist ja Teil der Familie) wegen dieser asketischen Rahmenbedingungen über diese ganze Zeit als Opfer gelten möchte. Ohnehin hat es seit 1982 den Knopf längst aufgetan, und die Türen erst recht. So standen die stolzen Blau-Weissen nicht nur an den eigens für sie veranstalteten Einweihungs-Volksfesten (wie beim Tram Zürich-West oder der Tramverbindung Hardbrücke) im Zentrum des Geschehens, selbst an der sommerlichen Technofasnacht namens Street Parade waren sie – natürlich nur als Attrappe auf einem Umzugswagen – schon mal mitten drin statt nur dabei.

Lebensfroh und gesellig: Die Züri-Linie mit Lovemobile Nr. 20 an der Street Parade, 7. August 1999.

Wir sind also etwas skeptisch gegenüber der Schlussfolgerung des 40-jährigen Horoskops, wonach die Züri-Linie zeitlebens unter der Bürde ihrer Geburtsstunde litte, und haben deshalb kurzerhand ein neues erstellen lassen. Dort steht nun zu lesen, die muntere, vielseitig engagierte «Lady» habe ein starkes Bedürfnis nach Austausch mit der Umwelt. Auch ein Interesse für alles Neue und Ungewöhnliche wird ihr attestiert. Und genau das stellt sie aktuell unter Beweis: Es fand nämlich ein Reifeprozess statt, der über den profanen Transport hinausführt. Unter vbz-mitreden zeigt sich, dass die Züri-Linie ganz bewusst die Meinung ihrer Fahrgäste in Entscheidungen miteinfliessen lässt. Besonders, wenn es um Neues und Ungewöhnliches geht. Etwa im Zusammenhang mit Pikmi und ZüriMobil oder dem Zukunftsbild ÖV 2050.

Wir wollten es genauer wissen... (Bild: VBZ)

Natürlich hat sich die Persönlichkeit Jungfrau nicht um 180 Grad gedreht. Ihrem Naturell entsprechend, tüftelte sie systematisch weiter an guten Verbindungen, wie etwa die oben erwähnten Tramverbindungen Zürich-West und Hardbrücke zeigen.  Halt eben ganz in der Art und Weise, wie es ihr im Horoskop von 1982 zugeschrieben und prophezeit worden ist. Und dass ihr Durchhaltewille und ihre saubere Präzisionsarbeit auch weiterhin gefragt sein werden, zeigt bereits der Blick nach 2022 – wo es nämlich darum geht, im öffentlichen Verkehr eine nächste Netzentwicklungsstrategie auszuarbeiten… Zum Glück aber ist dieses Jahr stark von Saturn und Jupiter geprägt, von zwei Planeten also, die für Ausdauer und Struktur, Mut und Verantwortung stehen.

Vor allem aber stehen im 2022 die Sterne im Bereich der Liebe besonders günstig für Jungfrauen. Und egal, wie spröde sich dieses Sternzeichen angeblich gibt: Die Liebe zu den Fahrgästen und deren Mobilität ist doch das, was den ÖV antreibt. Übrigens: Im 2023 steht uns dann ein Marsjahr bevor, und Sie wissen – Mars macht mobil!

 

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