Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Autor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Talwiesenstrasse – eine Station ohne Tal und ohne Wiese.
Gastautor: Thomas Wyss, freier Journalist
Samstag, 29. April, 11. 57 Uhr. Tramhaltestelle Talwiesenstrasse
«Aber nei, Blume chauft meh doch nöd in de Migros!»
Bitte was? Doch eher unverschämt, find ich! Was geht das diese fremde Tante an, wo ich meine Flora hole? Einfach hinterrücks ankeifen, gaahts no! Sie hätte sich wenigstens direkt vor mich hin stellen können, um mir ihre bodenlose Frechheit direkt ins Gesicht zu schleudern. Aber nei du, no balls! (pardon, das war jetzt eine eher blöde Bemerkung).
Klar, im Grunde hat sie recht: Das erhabene Bouquet, das postet man im Blumenladen des Vertrauens. Das ist da, wo gewisse Mitarbeiterinnen jahrein, jahraus Gummistiefel tragen und eine unheimlich gesunde Gesichtsfarbe haben. Und da, wo die Blumen so tun, als wären sie knackige Modells, die hinter einem imaginären Vorhang darauf warten, bis sie in kühner Anmut und zu coolen Beats Step by Step über einen imaginären Catwalk stöckeln dürfen …
… dabei sind diese elenden Diven doch kein Mü weniger tot als ihre Artgenossinnen beim Grossverteiler. Doch diese armen Schweine (pardon, das war jetzt schon wieder eine eher blöde Bemerkung) stehen in Kübeln neben dem Kundendienst und warten darauf, bis sich jemand aus Mitleid oder Verlegenheitsgeschenkbedarf ihrer erbarmt, und sie in kalter Hast in eine reale Einkaufstasche abtauchen müssen … und statt Musik erklingt dazu eine Durchsage im Stile von: «D’Cheyenne suecht ihres Mami. Sie isch foifii, hät langi bruuni Häärli und schööni grüeni Äugli, wo inzwüsche vom Briegge echli rot worde sind. D’Cheyenne wartet am Chundedienscht uf ihres Mami.»
In der Klubschule könnte mans lernen
Doch all dies ist nicht das schlimmste am Schicksal dieser armen Migros-Blumen, nein, das schlimmste ist, dass sie häufig schon zu Sträusschen oder Sträussen geschnürt sind – und zwar in weit über der Hälfte aller Fälle von einer Person, deren Farb- und/oder Stil-Geschmack übler verstaucht ist als der Fuss jenes Wanderers, der erst über eine Wurzel strauchelt, dabei den Halt verliert und leicht abrutscht, dabei allerdings mit einem Schuh im schlammigen Boden hängen bleibt.
Das tut weh (gemeint ist nicht der Fuss, im Fall), umso mehr, als die Migros-Klubschule im Raum Zürich 86 (!!!) Angebote auflistet, die irgendetwas mit Blumen zu tun haben. Zum Beispiel den: «Floristik: Blumentorte». Oder diesen hier: «Aquarellieren: Blumen und Pflanzen (Kleingruppe)». Oder saisonal: «Floristik: Herbstgestecke mit Kürbissen und Beeren». Oder formal: «Floristik: Rund soll es sein – Kugeln aus Naturmaterialien». Oder «Schwemmholzdekoration», «Sommervasen-Füllung», «Weihnachtsgestecke», «3D-Torten», «Filzen» … und ja, sogar den da, der würde bestimmt genügen: «Floristik: Grundkurs».
Die Tote heisst plötzlich «Ellen»
Ja, die Frau hat eben wirklich recht: Blumen kauft man nicht in der Migros. Wobei man sich ja mal ganz grundsätzlich fragen könnte, ob man überhaupt noch Blumen kaufen soll. Vegan-moralisch betrachtet, mein ich. Vielleicht müsste man sich als Blumenfreund ein Vorbild an den Frutariern nehmen, und nur noch jene Exemplare «pflücken», die den Exitus bereits erlangt haben, die also gemäht, niedergetrampt oder sonst wie kaputt in der Wiese, am Wegesrand oder sonst wo liegen.
Da kommt mir grad in den Sinn, dass ich unbedingt wieder mal Alfred Döblins Erzählung «Die Ermordung einer Butterblume» lesen müsste.
Da kommt mir grad in den Sinn, dass ich unbedingt wieder mal Alfred Döblins Erzählung «Die Ermordung einer Butterblume» lesen müsste. Wohl der beste Text über Blumen, den ich mir jemals zugeführt habe. Wobei ich noch waghalsiger werden und behaupten möchte: Eine der besten Lektüren meines Lebens überhaupt! Und das geschah nicht mal freiwillig, es war im Erwachsenengymnasium, als wir nach langen Jahren endlich zur literarischen Moderne vordrangen und dabei den «Expressionismus» durchnahmen. Normalerweise liest man in dieser Phase vorab schwerstmorbide Gedichte, die – obwohl das nur rein biomechanisch oder wie das heisst glaub gar nicht möglich ist –, nicht selten eine Art Verwesungsgeruch verströmen. Schrecklich.
Aber eben: normalerweise! Unsere grandiose Paukerin Gisa Frey aber schickte uns zur Erkundung des «Expressionsmus» erst mal auf die wohlriechende Butterblumenwiese. Natürlich, der Titel macht daraus keinen Hehl, geht’s auch in Döblins Story um Meuchelei, und Marcel Fischer, der Protagonist, muss wegen seinem sinnlosen kleinen Wutanfall, in dessen Zuge er unabsichtlich eine Butterblume köpft, woraus sich in seinem Kopfe ein unguter Wahn auszubreiten beginnt, und die Butterblume plötzlich «Ellen» heisst, und … nein, das reicht, selber lesen macht glücklich, das Taschenbuch kostet praktisch nichts.
Jedenfalls ist es schon so, dass ich statt Blumen auch Pralinen hätte kaufen können. Oder die Döblin-Erzählungen. Oder noch besser: Ein paar Turnschuhe mit gutem Profil. Dann wäre mein Kumpel, der sich wegen seinen lässigen, aber nicht rutschfesten Tretern beim Uetliberg-Spaziergang den Fuss gebrochen hat – weshalb ich ihn an diesem Samstag im Triemli besuchen wollte, und dazu an der Haltestelle Talwiesenstrasse ausstieg, um in der hier ansässigen Migros als Verlegenheitsgeschenk einen geschmacksverstauchten Blumenstrauss zu kaufen, und dabei Minuten später beim kurzen Innehalten von einer mit gänzlich unbekannten Frau harsch angefahren wurde – nämlich bei seinem nächsten Ausflug besser auf die heimtückischen Naturgewalten des Hausbergs vorbereitet.
Es ging um Vroni, nicht um mich
In dem Moment, in dem ich bemerke, dass an der Station «Talwiesenstrasse» weder ein Tal noch eine Wiese existiert (was die Frutarier-Sache mit dem Einsammeln von bereits verendeter Blumenmaterie natürlich deutlich erschwert hätte), fährt der 14er ein. Ich drehe mich um und sehe zwei niedliche ältere Damen. Die eine hält einen Blumenstrauss aus der Migros in der Hand – er sieht ähnlich schepps aus wie meiner – derweil die andere beim Einsteigen lachend den Kopf schüttelt und zu ihrer Freundin meint: «Vroni, Migros-Blume, nei würkli.»
Ja, so kann es gehen beim Innehalten: Da hat man ein sinnliches Thema wie Blumen, und dennoch entsteht ein Text, dessen Lektüre so anstrengend ist wie der «Delphin» beim Yoga; da holt man sich ja einen Hexenschuss, wenn man den richtig machen will.