Patsch mit scharf zum Nulltarif

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten».
Den Auftakt macht Oli Dischoe alias «Pendolin». Der Zürcher Stadtmensch und bekennende ÖV-Fan ist derzeit in Budapest unterwegs, wo er für uns den lokalen öffentlichen Verkehr auf Herz und Nieren «testet».

Pendolin schreibt. Heute: «Patsch mit scharf zum Nulltarif»

Jetzt mal unter uns: Wie viel Intimität ertragen Sie? Also ich meine jetzt nicht, wenn Ihre Partnerin oder Ihr Liebhaber neben Ihnen liegt und Sie endlich mal wieder auf Ihre Kosten kommen. Nein, ich denke jetzt an all diese beglückenden Momente, wenn im dichten Gedränge im Bus eine unbekannte Hand Ihren Allerwertesten berührt. Oder wenn der Rucksack eines Mitreisenden einem im Tram nicht nur die Sicht sondern auch die letzte Freude am pendeln nimmt. Solche Momente gibt es hier in Budapest rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Auch nachts – zum Nulltarif.

«Patsch!» Wieder ist sie da, die kräftige Hand meines Stehnachbars. Wieder klatscht sie wie von selbst gegen meine linke Pobacke. Immer wenn die Menschenmenge durch Beschleunigen oder Abbremsen aneinander gedrückt wird. «Patsch», erneut. Absicht oder nicht? Wenigstens scheint sie sauber zu sein, gepflegt, diese Hand. Keine Kurve lässt sie aus, während das 6er-Tram vom Budapester Westbahnhof Richtung Rákóczy-Platz rauscht.

Es ist nachts um viertel vor zwei. Mittwoch. Der Typ mit der Hand scheint betrunken zu sein. Wie etwa 85 Prozent der Fahrgäste. Quatsch. Wie alle Fahrgäste, ich inklusive. Anders lässt sich die widersprüchliche Schönheit dieser Stadt manchmal kaum aushalten. Zu vieles ist zu schön, zu vieles auch ziemlich abgefuckt, die Gesellschaft ansatzweise schizophren. «Patsch», – jetzt ist aber genug! Ich steige aus.

Meinen Anschluss, den Nachtbus nach Hause, habe ich nur um Sekunden verpasst. Und so stehe ich nun vor der Wahl, ob ich zu Fuss gehe oder – das dauert etwa gleich lang – eine Viertelstunde warte. Denn die Budapester Verkehrsbetriebe BKV lassen die wichtigsten zwei Tramlinien und die dutzenden Nachtbuslinien im 10- bis 30-Minuten-Takt verkehren. Nicht nur in den Nächten am Wochenende, sondern auch unter der Woche.

Zu vieles ist zu schön, zu vieles auch ziemlich abgefuckt, die Gesellschaft ansatzweise schizophren.

Ich entscheide mich für den Spaziergang, schliesslich hat Bewegung noch nie geschadet. Und so komme ich auch noch an meinem Lieblings-Tortilla-Stand vorbei. Gerne mit scharf, mit Chorizo und reichlich Käse. Und Budapest ist die Stadt, die niemals schläft, dafür immer isst – und trinkt.

Auch die BKV-Kontrolleure schlafen nie. Oder nur manchmal. Sie stehen jeweils bei den Eingängen zu den Metrostationen oder tauchen plötzlich im Tram auf. Freundlich, aber bestimmt (nun gut, manchmal auch völlig desinteressiert) schauen sie auf das Ticket oder Abo, das man ihnen entgegenhält. Sie tragen dazu bei, dass die Arbeitslosigkeit in Ungarn tendenziell sinkt. Denn die Kontrolleure bei der Metro sind häufig in viel zu grossen Gruppen anzutreffen. Da kommen nostalgische Gefühle auf, Erinnerungen an die Zeit vor 89, als sechs Leute den Job einer Person erledigten.

Ich komme zuhause an. Für die gesamthaft drei Türen (Hauseingang, Zwischentüre, Wohnungstüre) und sieben Schlösser benötige ich vier verschiedene Schlüssel. Nachts im Dunkeln eine unglaubliche Challenge, betrunken sowieso. Erfreut darüber, dass ich erfolgreich in meine Wohnung gelangt bin, schmeisse ich mich aufs Canapé. Ich denke zurück an diese grossartige Ruinenbar, an die tollen (und leider nicht mehr immer so günstigen) Drinks und an B. Und an diese Hand. Das «Patsch» fehlt mir nun fast etwas. Aber egal.

Für ein Monatsabo zahle ich hier umgerechnet knapp 35 Franken. Ein separates Nachtticket braucht es nicht. Wenn ich meinen ungarischen Freunden und Verwandten vom Nachtzuschlag in Zürich erzähle, fühlen diese sich bestätigt, dass die Schweiz das Land der Abzockerei ist. Wenigstens ist die Politik bei uns… Ach lassen wir das.

Wenn ich etwas gelernt habe, dann das: Triffst du neue Leute, dann lass die Themen Politik und Religion weg. Denn dann kannst du in Budapest mit jedem Party machen – und bist selbst im Kommunisten-Treff «Marxim» willkommen (Bier: günstig; Pizza: hervorragend).

Wieder macht es «Patsch» auf meinem Po. Ich schrecke auf, neben dem Canapé steht B. Dieses Grinsen: unbezahlbar.

Sonderkorrespondent Oli Dischoe alias Pendolin

Oli Dischoe ist diplomierter Journalist, zuletzt war er als Chefredaktor bei Radio 1 tätig. Seit 2012 verfasst er als «Pendolin» für das Intranet der VBZ regelmässig seine Alltagsgeschichten aus dem ÖV. Momentan ist «Pendolin» in Budapest unterwegs, er verbringt drei Monate in der ungarischen Hauptstadt.

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