Franz Hohlers Stück «ÖV» ist eine Sammlung zwischenmenschlicher Anekdoten in Trams und Zügen. Sie erbringt den Beweis, dass das Miteinander im öffentlichen Verkehr selbst in einer Pandemie eine höchst heitere Angelegenheit sein kann. Ein Probebesuch.
Bild und Video: Sarina Schmid
Wie ist es, mitten in der zweiten Welle einer weltweiten Pandemie ein lokales Bühnenstück zum Laufen zu bringen? Man kann es nicht anders formulieren: Es ist ein veritables Theater!
Eben noch waren zwei Teammitglieder positiv, eine weitere Person sitzt derzeit – wenn auch gesund – in Quarantäne, und die Zahl potenzieller Zuschauer ist erdrutschartig gesunken. Da darf man sich getrost die Frage stellen, weshalb so ein Projekt ausgerechnet jetzt über die Bühne gehen soll. Die Antwort: Eben genau deshalb – um das Theater vor dem drohenden Sumpf zu bewahren. Das war zumindest die Absicht, bevor im Publikum nur noch 50 Nasen zugelassen wurden. Für einen Rückzug ist es zu spät, ohnehin möchte man aber trotz des finanziellen Desasters ein Zeichen setzen. Und die Hoffnung besteht, das Stück später wieder vor einem grösseren Publikum aufführen zu können.
Seit das Bernhard Theater fix vom Opernhaus übernommen wurde, werden hier nur externe Produktionen gespielt. Dieses Jahr wären die meisten davon wegen der Corona-bedingten Reduktion der Plätze von 400 auf 260 nicht mehr rentabel gewesen und mussten deshalb abgesagt werden, erklärt Theaterleiterin Hanna Scheuring. Es drohte der komplette Stillstand für mindestens sechs Monate. Um das alteingesessene Theater am Sechseläutenplatz über die Runden zu bringen, musste eine Eigenproduktion her – die erste seit fast 20 Jahren.
Der «ÖV» von Franz Hohler hält Einzug ins Bernhard Theater
Fahrt in die Angelegenheit brachte Franz Hohler mit seinem Stück «ÖV». Ein Theaterstück mit Musik, das kurze zwischenmenschliche Begegnungen in Trams und Zügen inszeniert. Ursprünglich für das Theater Rigiblick vorgesehen, trat dessen Intendant Daniel Rohr das Werk an seine Lebenspartnerin Hanna Scheuring als Leiterin des Bernhard Theaters ab – und die engagierte ihn prompt als Regisseur des Stücks. Und so wurde das Schauspiel mit begrenztem Budget, dafür innert Rekordzeit, aus dem Bretterboden gestampft. Scheuring und ihre Assistentin Esther Friederich klopften an zahlreiche Türen, um trotz des knappen Geldes eine hohe Qualität bieten zu können.
Gelöste Stimmung trotz Mehrfachbelastung
Mit diesem Vorwissen gehen wir eine Woche vor der Uraufführung gespannt und vorfreudig an eine Probe des Stücks. Heitere Betriebsamkeit erfüllt den Raum. Auf der Bühne singt Schauspieler Rolf Sommer, dass er Hemmungen habe – nicht, weil er an Lampenfieber leidet, sondern vielmehr, weil das bekannte Lied von Mani Matter zum Stück gehört. Etwas weiter hinten in der Szenerie, in einer dunklen Ecke, sitzt einsam wartend ein Fahrgast – gerade so, als sei er nachts ins Depot eingefahren und vergessen gegangen –, während sich rechterhand ein Grüppchen Schauspieler um einen grossen, bunten Koffer schart. Aus der Mitte des Raums ertönt ein fragendes «Regiiie, wo ist die Regie?» Irgendwo scheppert etwas. Es wird herumgeflachst, die Stimmung ist gelöst.
Von rechts biegt die Regie in Person von Daniel Rohr um die Ecke und hält kurz inne: «Vor uns müssen sie übrigens keine Angst haben, wir hatten das Virus schon», bekennt er munter. Es habe sich ausbezahlt, dass immer mit Maske geprobt worden sei, bestätigt auch Scheuring, die es gemeinsam mit ihrem Partner erwischt hat: So habe sich das Virus nicht weiter im Team verbreitet. Trotzdem sind Doppelfunktionen noch immer an der Tagesordnung für das Team. Heute springt die Leiterin des Theaterbüros, Esther Friederich, für die Regieassistenz ein, die – negativer Test hin oder her – ihr Zimmer gerade nicht verlassen darf.
Das Alltägliche gleitet sanft ins Absurde über
Zurück zum Stück: In der heutigen Probe liegt der Fokus auf den Umbauten, die wie Scharniere ineinandergreifen sollen. «Das Spiel wächst erst zusammen, jetzt ist es noch sehr roh», erklärt Regisseur Rohr. Er klatscht in die Hände und ruft seine Schützlinge auf den Plan. Das Stimmenwirrwarr wird von einer Durchsage der Leitstelle unterbrochen – wie im richtigen ÖV, denn das gehört so zum Stück. Dann beginnen die verschiedenen Sequenzen der Aufführung.
Die Handschrift von Franz Hohler, das sieht man rasch, ist unverkennbar. Die Figuren mit all ihren skurrilen und mitunter anstrengenden Eigenschaften sind wohlwollend und liebevoll dargestellt – so, dass man laut herauslachen möchte, ohne jemanden auszulachen. Ein Humor, der darauf verzichtet, Partei zu ergreifen, der verbindet, anstatt zu polarisieren.
Wir befinden uns unübersehbar im Jahre 2020. In den Episoden aus dem ÖV, den inszenierten Trams und Zügen auf der Bühne, sitzen Menschen mit und solche ohne Maske eng beieinander. Angespannte Abwehr trifft auf Distanzlosigkeit, die Körper hängen immer schräger im Sitz, beim Versuch, auf Abstand zu gehen. Und dann niest einer!
Die Schlachten werden hier nicht in den sozialen Netzwerken, sondern live auf dem Tramsitz ausgefochten – inklusive freie Sicht auf blinde Flecke, die zu erkennen allerdings dem Publikum vorbehalten ist. Das Alltägliche gleitet sanft ins Absurde über, und doch bleibt die Botschaft bei allem Vergnügen zumeist recht ernst. Zum Beispiel, wenn Schauspielerin Graziella Rossi ihren Sitznachbarn Delio Malär bittet, den Arm ruhig hinter ihr auf der Lehne zu belassen – manche Menschen sind im ÖV unterwegs, damit sie sich weniger einsam fühlen. Oder wenn Kamil Krejčí ausser sich gerät beim Gedanken, hinterrücks in die Zukunft geschoben zu werden, und deswegen mit Rolf Sommer den Sitzplatz tauschen möchte. Oder wenn Markus Keller seine Mitreisenden desinfiziert. Es ist ein ÖV, in dem die Leute miteinander sprechen, mal unterschwellig, mal lautstark. Ein ÖV, der lebt. Manchmal auch dort, wo weniger mehr wäre, im Ruheabteil nämlich.
Der eine Zuschauer, den alle lieben
Franz Hohler sorgt mit seinem subtilen Humor für einen wohltuenden Perspektivenwechsel in der ganzen Corona-Diskussion. Wie liebeswert all diese kleinen, menschlichen Schwächen doch sind! Und ja, wir Zürcherinnen und Zürcher können sehr leidenschaftlich sein, vor allem, wenn jemand Luther mit Zwingli oder das Gross- mit dem Fraumünster verwechselt.
Nachdenklich und gleichzeitig leichter, beschwingter, so fühlt sich die hier schreibende Zuschauerin in steigendem Masse, je länger das Stück dauert. Es kribbelt gewissermassen von innen. So wie bei Krejčí, der sich in seiner Rolle jetzt über Mineralwasser mit Kohlensäure echauffiert: «Wie freche Goofen, die von innen kitzeln und kichern». Oder wie Daniel Rohr, der Regisseur, der von Szene zu Szene in fröhliches Giggeln ausbricht und allenthalben gar hell auflacht. Er ist dieser eine Zuschauer, den alle lieben, weil er dank seinem Lachen den ganzen Saal mit ausgelassener Heiterkeit ansteckt. Das schönste Kompliment an die Schauspieler auf der Bühne.
Auf dem Heimweg im Tram wirkt die Umgebung eigenartig «erfrischt», als ob sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wäre – und irgendwo meint man, Regisseur Rohr lachen zu hören. So bleibt das Gefühl, mit einer gewissen Serenität könnte das Miteinander im ÖV eine ausgesprochen heitere Sache sein. Selbst im Jahr 2020.
«ÖV» ein Theaterstück mit Musik
Die Uraufführung von Franz Hohlers Stück spielt seit 27. November noch bis Anfang Januar im Bernhard Theater. Weitere Informationen und Tickets erhalten Sie hier. Regie: Daniel RohrCo-Regie: Klaus HemmerleSchauspieler: Graziella Rossi, Markus Keller, Delio Malär, Rolf Sommer, Kamil Krejčí, Hanna ScheuringBühnenbild: Simone BaumbergerKostüme: Kathrin BaumbergerTechnische Leitung: Jordi RicciardiTechnik: Dave Karrer, Paul SchubertProduktion: Bernhard Theater