Nachtschicht mit der Nachteule

Die VBZ wechseln jedes Wochenende auf 24 Stunden-Betrieb. Damit diese Maschinerie von Freitagmorgen früh bis Sonntagabend spät durchgehend funktioniert, sind die Verkehrsbetriebe auf Mitarbeitende angewiesen, die vollen Einsatz geben. Eine davon ist Gabi Pletscher. Wir haben die Busfahrerin in einer regnerischen Freitagnacht begleitet.

Ein letzter Rundgang um den Neoplan. Alles in Ordnung, auch wenn Gabi lieber den Mercedes hätte. Am Wasserwerfer der Stadtpolizei Zürich vorbei fahren wir nach oben auf den Vorplatz der Busgarage Hardau. Dort herrscht reger Betrieb und wir müssen kurz warten. Es ist Freitagnacht beziehungsweise Samstagmorgen, 1 Uhr. Zu dieser Ortszeit bringen die Bus-Chauffeure und -Chauffeusen der regulären Linien ihre Fahrzeuge zurück in die Garage. Für sie ist Feierabend. Gabi Pletschers Einsatz allerdings beginnt erst jetzt. Die Nachtschicht mache ihr nichts aus, sagt sie munter, «ich bin eine Nachteule.»

Wie alle Nachtbusse startet auch unsere Linie, die N14 (Gabis Lieblingsroute), am Bellevue. Die Strecke lautet: Bellevue-Thalwil-Bellevue-Uitikon-Bellevue-Thalwil, dann geht’s zurück in die Garage. Kurz nach unserer Ankunft am zentralen Verkehrsknotenpunkt der VBZ betreten die ersten Fahrgäste den Bus. Begleitet werden die fünf Jugendlichen von einer Cannabis-Duftwolke und lauter Musik aus einem «Böxli». Sie machen es sich gerade auf den hintersten Sitzreihen bequem, als neben ihnen die Stimme des «Gesetzes» ertönt – die Nachteule ist herangeschwebt und erklärt ihnen ihre Spielregeln: «Hört mal Jungs, solange ihr allein seid hier drin, ist mir die Musik egal. Wenn aber jemand einsteigt, schaltet ihr das Ding ab. Okay?». Zehn rot unterlaufene Augen staunen Gabi an. Die Köpfe dahinter versuchen die Information zu verarbeiten, was in diesem Zustand eine Weile dauert. Der Schnellste nickt irgendwann und murmelt ein «Okay». Kurze Zeit später erscheint der nächste Fahrgast und die Party ist vorbei. Die Thalwiler Gemeindejugend wechselt in den Ruhemodus.

Nachtbusfahrerin aus Leidenschaft - Gabi Pletscher hält nicht viel von Bürozeiten. (Bild: Lorenz Huber)

Wasserratten und Walfische

Auf der nächtlichen Strecke nach Thalwil sieht man die meiste Zeit die Umrisse des Zürichsees. Einer der Gründe, warum Gabi die Linie so liebt. Die Busfahrerin ist nicht nur Nachteule, sondern auch eine Wasserratte, die in den Ferien schnorcheln geht. Während wir unterwegs sind, erzählt sie mir die unglaublichsten Unterwassergeschichten von Buckelwalen und von gewaltigen Fischschwärmen in den Korallenriffen vor Bali.

«Man muss der Typ dazu sein, aber ich liebe es.»

Regentropfen klatschen an die Frontscheibe. Die Scheibenwischer arbeiten sich stoisch hin und her und geben ein monotones Quietschen von sich. Unter uns brummt leise der Dieselmotor. Ansonsten ist es ruhig im Nachtbus. Nach dem Bellevue ist niemand mehr eingestiegen. Jetzt steigen sie nur noch aus. Dem letzten noch verbliebenen Fahrgast wird es zu langweilig auf seinem Sitz. Er kommt nach vorne, will ein bisschen plaudern. Wegen seines eleganten Outfits frage ich ihn, ob er im Theater war. «Nein», antwortet er, «trinken». Das hat er offensichtlich ganz ordentlich gemacht. Als wir seine Haltestelle erreichen, bleibt er an der Tür stehen. Er ist mittlerweile richtig in Plauderlaune, will gar nicht mehr aufhören. Irgendwann zottelt er doch davon, trotz kalter Januarnacht hat er Hemd und Mantel weit offen, den Schal nur lose um den Hals gelegt. So wärmt das Accessoire zwar nicht, sieht dafür aber elend schick aus. Das ist wichtig, wenn man ins Theater geht – oder eben trinken.

Der Plaudertasche sei «Dank» sind wir in Verzug und müssen an der Endhaltestelle gleich weiterfahren. Gabi nimmts gelassen. Für sie ist Nachtbusfahren mehr Berufung als Beruf. «Man muss der Typ dazu sein, aber ich liebe es.» Auf der Rückfahrt bleibt der Bus leer. Intuitiv und sicher steuern Gabis Hände den Neoplan durch den Regen. Sie kennen die Tücken jeder Kurve, sind sie schon unzählige Male gefahren. Weit unter uns liegt der Zürichsee, eine schwarze unruhige Fläche unter dem Wolkenhimmel. Am anderen Ufer reihen sich Laternen an Laternen. Von unserem Bus aus sieht es aus wie eine Lichterkette, die ihr schwaches Schimmern auf die sanft wogenden Wellen wirft.

«Die besten Brötchen von Zürich»

Der Weg nach Uitikon führt uns quer durch die Stadt. Als wir um halb drei Uhr am Stauffacher sind springt ein Deutscher in den Bus. Er sucht sein Hotel. Gabi kennt weder den Namen noch die Adresse der genannten Unterkunft, weshalb sie spontan den Publikumsjoker einsetzt und durch den Bus nach hinten ruft: «Kennt jemand das Hotel Contiki?» Bis auch der letzte Fahrgast verstanden hat, muss sie die Frage dreimal wiederholen. Die meisten sind eingedöst oder haben Kopfhörer in den Ohren. Die Adresse kennt niemand und der Deutsche zieht ohne Wegbeschreibung wieder davon.

Die Linie N14 hat ihre Vorteile. Gleich neben der Haltestelle Uitikon Dorf liegt die Bäckerei «Bode», die für die Nachtbusfahrer früher öffnet. «Das sind die besten Brötchen von ganz Zürich. So früh am Morgen kommen sie direkt aus dem Ofen und sind noch warm», verrät Gabi. Am liebsten möge sie die aus Maismehl. Leider sitzen wir in Fahrzeug vier des Kurses und kommen nur einmal nach Uitikon – zu früh für Maisbrötchen.

Ein seltener Anblick - Andere Verkehrsteilnehmer trifft man kaum in dieser regennassen Nacht. (Bild: Lorenz Huber)

Es ist bereits kurz nach drei Uhr. Wir sind wieder unterwegs Richtung Bellevue. An der Haltestelle Kalkbreite wartet eine Gruppe Jugendlicher. Seit Uitikon sind es die ersten, die mitfahren wollen. Sie machen einen «Fehler» und steigen vorne bei Gabi ein. Den wachsamen Augen der Nachteule entgeht nicht, dass die Nachtschwärmer versuchen, gefüllte Plastikbecher in ihr Reich zu schmuggeln (Geruch und Farbe lassen auf Whisky-Cola schliessen). Es beginnt eine Diskussion, bei der die Teenager auf alles Mögliche «schwören», sie würden keinen Tropfen des Getränks vergiessen. Angesichts ihres Alkoholpegels ein ziemlich unglaubwürdiges Versprechen. Gabi bleibt hart und die Becher draussen.

Während der Fahrt mache ich immer wieder Filmaufnahmen mit meiner Kamera. Die neu zugestiegenen Balance-Talente halten mich deshalb für einen «TeleZüri»-Reporter und wollen mir ihre Beatbox- und Rap-Künste vorführen. Als sie erfahren, dass ich nicht für das Regionalfernsehen, sondern für «vbzonline.ch» drehe, wird die Performance kurzerhand wieder abgeblasen. Offenbar hat das Magazin eine (noch) zu geringe Reichweite für Künstler von solchem Format.

«Saure-Gurken-Zeit»

Wieder geht es nach Thalwil. Meine Augenlider sind mittlerweile ziemlich schwer. Immer häufiger muss ich gähnen. Solche Anzeichen der Müdigkeit sucht man bei Gabi vergebens, obwohl sie mit 60 fast 37 Jahre älter ist als ich. «Siehst du? Ich hab ja gesagt, dass es heute eine ruhige Fahrt wird», sagt sie und lacht mich an: «Es ist ‹Saure-Gurken-Zeit›. Nach den Festtagen müssen die Leute ihre Kröten zusammenhalten». Obwohl sie gerne ein bisschen Action habe, gefallen ihr auch diese Nächte, «manchmal ist es schön, seine Ruhe zu haben».

Hinten im Bus dösen die letzten Heimkehrenden vor sich hin, beobachten Smartphone-Displays oder hängen ihren Gedanken nach. Gabis Blick ist auf die regennasse Strasse gerichtet. In regelmässigen Abständen ziehen die Laternenmasten an uns vorbei. Je näher wir ihnen kommen, desto heller leuchtet Gabis freundliches Gesicht im matten Strassenlicht. Passieren wir eine Laterne, wird es wieder dunkel in der Kabine, und das Spiel beginnt von neuem. Immer im gleichen Takt. Es ist die letzte Fahrt, die Uhr zeigt bald vier Uhr. Die Schicht im Fahrzeug vier der Linie N14 neigt sich langsam dem Ende zu und bald ist Morgen. Zürich erwacht gemächlich zum Leben und nachtaktive Eulen legen sich schlafen.

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