«Wo wir fahren, lebt Zürich»: Unser Versprechen gilt in guten Zeiten und auch in diesen. Zürich lebt, auch wenn es gerade etwas aus dem Takt gekommen ist. Darüber, wie es unserer Stadt und ihnen so geht, erzählen Zürcherinnen und Zürcher gemeinsam mit uns in der Serie #sogahtsZüri. Heute berichtet uns Surprise-Verkäufer Ruedi Kälin über seine Projekte und wie er fit und gut gelaunt durch die Corona-Zeit kommt.
Ruedi Kälin kennt man. Seit 19 Jahren sieht man ihn – wallendes Haar, Rauschebart und sanftmütiger Blick – nicht nur, aber oft auch am Hauptbahnhof. Dort bringt er das «Surprise» an den Mann und die Frau, ja er hat sich gewissermassen zur Galionsfigur des Strassenmagazins gemausert. Man könnte gar so weit gehen und behaupten, er sei schon fast Teil des Stadtbilds. Obschon er eigentlich in Chur wohnt. Jetzt muss er, wie alle anderen auch, daheim bleiben. Ausgerechnet Kälin, der sich während seiner gesamten Arbeitstätigkeit gerade mal zehn Tage Ferien gönnte: «Für das Strassenfussball-Trainingscamp in Glasgow und letztes Jahr an Weihnachten, da war ich in Davos», wie er präzisiert. Immerhin, so erfahren wir, habe er einen Balkon, und wenn er das Fenster öffne, falle sein Blick ins Grüne. Leicht fällt es ihm trotzdem nicht: «Ich bin sehr aktiv, ich kann nicht ständig herumsitzen», stöhnt er.
Jetzt wird das Münz aufgebraucht
Man wird nicht reich vom Verkauf der Heftli und mit Corona bricht auch diese kleine Einnahmequelle komplett weg. «Die Krise trifft mich finanziell schon hart. Da ich nicht bei der Sozialhilfe bin, hängt mein Einkommen voll vom Verkauf des ‹Surprise› ab», räumt der 60-Jährige ein. Seine Einnahmen verwaltet er fein säuberlich mit Couverts, eines für den Mietzins, eins für die Krankenkasse, und wenn er pro Stunde mehr als drei Hefte verkauft, reicht es auch fürs Feriencouvert.
Trotz alledem ist noch nicht mal ein Hauch von Bitternis spürbar. Wer es – wie er – von ganz unten auf eigene Beine geschafft hat, lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Auch nicht vom vorherrschenden Virus. Jetzt gehe er mit seiner Barschaft halt noch haushälterischer um: «Ich habe noch viel Münz daheim, das brauch ich jetzt einfach beim ‹Poschte› zuerst auf.» Was ist in ihm vorgegangen, als man ihm beschied, er müsse seine Arbeit niederlegen? «Ich habe einen halben Tag länger gemacht», verrät er: «Ich bin nämlich ehrgeizig. Ich wollte noch die letzten Hefte verteilen!»
Der einstige Stadtführer besucht jetzt Schulen
Unser Zürcher Original ist einer, der immer vorwärts schaut. «Ich gehe jetzt auch an Schulen, zusammen mit dem Peter», sprudelt es aus ihm heraus. «Die Kinder wissen nämlich gar nicht, dass so viele Menschen in Armut leben». Bis vergangenen Januar nahm Kälin während fünf Jahren in Zürich interessierte Zeitgenossen auch auf Surprise Stadtführungen – sogenannte Soziale Stadtrundgänge – zum Thema «Überleben auf der Gasse» mit. Knapp 70’000 Personen haben schweizweit bereits an solchen von Armutsbetroffenen geleiteten Rundgängen teilgenommen.
Auf der Strasse ist es jetzt noch schwieriger
Für viele von uns selbstverständlich, ist Kälin dankbar um seine Wohnung: «Ich hatte Glück. Seit acht Jahren bin ich jetzt in Chur daheim. Obwohl ich am Anfang etwas Mühe hatte. Ich habe lange auch gar keine Wohnung gesucht: Es ist nämlich so, dass ich durchaus auch viele schöne Momente erlebt habe, als ich obdachlos war.» Jetzt aber ist es für jene, die noch draussen leben, besonders schwierig: «Die Gassenküche zum Beispiel, die können doch nur noch draussen servieren. Auch der Pfuusbus, dort ist es so eng, der kann im Moment niemanden aufnehmen», meint er nachdenklich. Der einstige Obdachlose weiss, wovon er spricht: «Ich war über sieben Jahre auf der Strasse, aber immerhin hatte ich eine Beschäftigung. Viele haben das nicht. Man muss sich selber motivieren können.» Heute zeigt er den «Surprise»-Kollegen, wie das am besten geht.
Danach befragt, wie sein Rezept für seinen ungebrochenen Lebensmut lautet, meint er aufgeräumt: «Geduld. Es muss nicht alles von Anfang an funktionieren, aber in langsamen Schritten. Das ganze Leben ist ein Geduldsspiel. Anständig muss man sein. Positiv denken. Wenn ich mal schlecht verkaufe, überlege ich einfach, wie ich am nächsten Tag noch mehr machen kann. Dann bin ich schnell wieder zufrieden.» Wenn reihum schlechte Stimmung herrsche, so lasse er sich nicht anstecken. «Ich bin selten schlecht aufgelegt, und wenn, dann nur zehn Minuten lang», kichert er.
1001 Interessen
Bei allem Optimismus – irgendetwas muss es in der aktuellen Situation doch geben, das auch für die lebenserprobte Frohnatur eine Herausforderung darstellt? Er besinnt sich kurz und vermeldet dann verschmitzt: «Schwierig ist, dass ich länger schlafen muss. Normalerweise geht’s bei mir nämlich um 4.15 in der Früh los. Jetzt bin ich meistens um fünf oder sechs Uhr wach und kehre mich nochmals um.» Erstaunlich, denn wenn man den ideenreichen Projektmanager so sprechen hört, erhält man den Eindruck, dass 24 Stunden für derart viele Interessen unmöglich reichen können. Item. Während er normalerweise morgens um 6.22 Uhr in den Zug Richtung Zürich steigt, nach Ankunft in der «Oase» sein Zmorge-Gipfeli isst und dann mit dem Verkaufen beginnt, tauscht er jetzt, daheim, das Gipfeli gegen eine Ovomaltine, hört etwas Musik – Schlager um genau zu sein, manchmal auch Volksmusik – und macht sich dann an die Arbeit. Der fleissige Lebenskünstler sprüht vor Tatendrang und bereitet sich intensiv auf die Zeit vor, wenn er wieder loslegen darf.
Apropos Arbeit: Ein weiteres Steckenpferd, für das Kälin jetzt Zeit findet, ist das Schreiben. Er führt nicht nur ein Tagebuch – ja, das auch –, nein er verfasst sogar einen Roman. «Dabei geht es um eine wahre Geschichte über eine Freundschaft mit einem eher schwierigen Start. Auch Erinnerungen an den Homeless World Cup in Glasgow, an dem ich mit der Surprise Strassenfussball-Nationalmannschaft teilnahm, sind dabei». Was er ebenfalls schreibt, sind Nachrichten an eine Kollegin. Das ist keineswegs so banal, wie es klingt. Sie, sagt er, stärke ihm den Rücken. Die beiden tauschen sich täglich aus.
Am meisten freut er sich aufs Verkaufen – und den Kontakt mit Menschen
Da ist dann doch eine Sache, die der extravertierte Verkäufer schmerzlich vermisst: Den persönlichen Kontakt zu Menschen. Dieser ist ihm so wichtig, dass er seine eigenen Tricks hat, wie man mit Leuten ins Gespräch kommt: So sucht er seine Aufenthaltsorte immer regelmässig zur selben Zeit auf, die Kehrrichtentsorgung etwa. «Wenn man anständig und freundlich ist, kommt man auch ins Gespräch»: So einfach kann das sein. Deswegen ist das, worauf er sich am meisten freut wenn die Corona-Zeit vorbei ist, sein Job als Verkäufer des «Surprise»-Strassenmagazins. Weil er dann wieder unter die Leute kommt, alte Bekannte trifft (er hat nämlich zu etwa 80% Stammkundschaft) und ab und zu einen kleinen Schwatz mit älteren Damen hält – völlig egal, ob sie ein Heft kaufen oder nicht.
Wenn es soweit ist, trifft er auch seine Kollegen vom Unihockeyclub Alligator Malans wieder, mit denen er öfter im Zug unterwegs ist und die ihn, wie er dankbar erzählt, im Spital besucht haben. Apropos Unihockey: Noch eine Sache, die ihm schon ein bisschen an die Nieren geht, ist der Ausfall der Eishockey-Spiele. «Normalerweise geben mir die Spiele des HC Davos Kraft, doch das fällt jetzt auch weg.» Als passionierter Fan hätte er natürlich ein Ticket für die WM gehabt… Auch beim Surprise Strassenfussball muss er etwas kürzertreten, nachdem er am Fuss operiert wurde. Trotzdem macht er auch heute regelmässig einen kurzen Sprint an der frischen Luft: «Zwischendurch muss ich ein bisschen raus – am besten morgens oder abends, da hat es wenig Leute. Nur daheim, das hält man auf Dauer nicht aus.» Drinnen gibt’s dazu noch Turnübungen. «Man muss sich gut schauen in dieser Zeit, die Gesundheit pflegen, Gemüse essen und sich regelmässig informieren», rät der lebenserfahrene Mann. Weise Worte.
Zum Abschluss möchten wir von ihm noch wissen, was denn das Wichtigste sei, das er den Menschen in dieser Zeit mit auf den Weg geben wolle. Das feine Lächeln ist durchs Telefon spürbar – aber wenn man das von jemandem unwidersprochen annehmen darf und soll, dann von diesem schlichten Mann: «Man kommt auch mit weniger Geld aus.»
Noch mehr Geschichten darüber, wie es den Zürcherinnen und Zürchern in diesen Zeiten geht, gibt’s unter #sogahtsZüri. Wer selber Teil von #sogahtsZüri sein möchte, kann unter vbz.ch/sogahtszueri mitmachen.
So unterstützen Sie das Strassenmagazin
Bis auf weiteres kann das Strassenmagazin «Surprise» nicht mehr verkauft werden. Auch die Sozialen Stadtrundgänge sind eingestellt. In der Zwischenzeit steht das Magazin kostenlos auf der Website zum Download bereit. Im Gegenzug ist der Verein auf Spenden angewiesen, um die Verkaufenden und Stadtführenden in dieser schwierigen Zeit finanziell und durch Sozialberatung zu unterstützen. Hier gehts zur Onlinespende. Oder mit dieser Bankverbindung: Spendenkonto Verein Surprise, 4051 Basel, PC 12-551455-3IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 mit dem Vermerk «Corona»Weitere Infos unter surprise.ngo