Kein (Fahr-)Plan, wie’s damals war

Was kommt dabei heraus, wenn zwei VBZ-Mitarbeiter ausschweifend über eine neue Erfindung namens «Mobilitätsplattform» plaudern, die das ersetzt, was man früher Fahrplan nannte? Eine Laui von Erkenntnissen über Fahrplanbücher, den Wandel, das Vergessen und die Zukunft.

Natascha Klinger: Die Behauptung, wonach früher gewohnheitsmässig ein dickes Fahrplanbuch konsultiert worden sei, geradeso wie auch das Telefonbuch, halte ich für eine Mär.

Thomas Wyss: Wieso meinst du?

Klinger: Ich habe meine Mutter gefragt. Und die ist immerhin schon seit den 1960er-Jahren selbständig mit dem ÖV unterwegs ist. Sie meinte: «Aso wenns mer rächt isch, hetts glaub wirklich so Fahrplanbiecher gäh, ganz sicher bin ich mir aber nid».

Wyss: Ich bin zwar kein Experte für den Basel-Dialekt, aber wenn ich es richtig verstanden habe, kann sich Deine werte Frau Mama nicht mehr mit Gewissheit an die Fahrpläne erinnern. Ich bin zwar altersmässig erst seit den 1970er-Jahren mit Bahn, Bus, Schiff oder Tram unterwegs, doch ich kann Dir versichern – der Fahrplan war oft dein einziger Freund und Helfer, wenn es zum Beispiel darum ging, von Zürich nach Zumdorf zu gelangen.

Klinger: Zumdorf?

Wyss: Ja, Zumdorf, das offiziell kleinste Dorf der Schweiz, es liegt im Kanton Uri, im Hospental, auf knapp 1500 Meter über Meer. Noch 1851 lebten da über 50 Menschen und etliche Tiere, dann ging eine fürchterliche Laui nieder …

Klinger (unterbricht): Eine was?

Wyss: Eine Laui. So nennt man im Urnerdialekt die Lawine.

Klinger: Bist du etwa Urner? Ich meinte mich zu erinnern, du hättest mal was von Luzern gesagt.

Wyss: Mein Bürgerort ist Büron im Kanton Luzern. Aber was kümmert einen der Bürgerort. Nein, ich bin Zürcher.

Klinger: Und wieso bist Du dann nach Zumdorf gefahren?

Wyss: Bin ich gar nicht. Aber ich habe meine KV-Lehre im Reisebüro absolviert, und da kam eines Tages ein Mann an den Schalter und sagte, er hätte gern ein Billett plus die schnellste Verbindung nach Zumdorf. Ich war so ahnungslos wie du jetzt, und da hat mir der Mann die ganze tragische Geschichte von Zumdorf erzählt, die er kannte, weil er Verwandte in einer unweit entfernten Gemeinde hatte.

Klinger: Durchaus interessant. Aber wie sind wir genau auf Zumdorf gekommen?

Wyss: Wegen Deiner Mutter. Und dem Zweifel an der Existenz von Fahrplänen. Und meiner Widerrede, weil ich eben mit genau diesem Fahrplanbuch die Verbindung von Zürich nach Zumdorf raussuchen musste. Und dabei kläglich scheiterte; ohne die Hilfe meines Lehrmeisters würde der Mann wohl heute noch auf diesem Reisebürostuhl sitzen und warten.

Klinger: Wenn ich diesen nun gemachten Schwenker also zusammenfasse: Es gab Fahrplanbücher, aber sie waren mühsam.

Wyss: Ein erstklassiges Resümee. Aber sag einmal, wenn du nie mit einem Fahrplan in Kontakt gekommen bist – wie bist du dann früher, in deiner Kindheit, von A nach B gelangt? Oder in deinem Basler Fall konkret von sagen wir Allschwil nach Bruderholz?

Klinger: Kennst du das Lied «Drämmli, uf di warti nämmli»? Man ist einfach früh genug gegangen. Damals hatte der Mensch nämlich noch Zeit statt Dauerstress.

Wyss: Du willst mir also weismachen, dass man in Basel einfach Stunden früher losgezottelt ist, um dann ewig in der Kälte herumzustehen? Wäre dies hier ein «Asterix & Obelix»-Band, hätte an dieser Stelle eine der Comichelden gesagt. «Die spinnen, die Basler», und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt.

Klinger: Pffff… Für weitere Reisen musste man ja ohnehin am Schalter ein Ticket erstehen und bekam dann auch den Zeitpunkt der Abreise mitgeteilt. Meiner vagen Erinnerung nach gab es auch einen telefonischen Auskunftsdienst – so wie ja heute immer noch. Apropos «Erinnerung». Ehrlich gesagt kann, ich mir heute gar nicht mehr vorstellen, dass es jemals KEINEN Online-Fahrplan gab. Wahnsinn, wie schnell man vergisst!

Wyss: Ja, es ist wahrhaftig verrückt, in welchem Tempo sich inzwischen alles ändert und entwickelt. Vom ersten Rad, das ja bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. erfunden worden war, bis zur Entwicklung der ersten Fahrräder zwischen 1817 und 1888 sind knapp 6000 Jahre vergangen. Zwischen dem ersten für Privathaushalte erschwinglichen Personalcomputer – in der Regel nennt man da den Apple I aus dem Jahr 1976, der 666 US-Dollar kostete – bis zum heutigen Smartphone, das nicht nur ein PC sondern auch noch ein Telefon, eine Digitalkamera, ein Fernseher und ein Zahlungsmittel ist, dauerte es dann aber gerade mal noch etwas mehr als 40 Jahre.

Klinger: Ja, die Technik entwickelt sich rasend schnell. Wenn das auf den geistigen Horizont des Menschen nur auch zuträfe…

Wyss: Ich glaube, diesen rasanten technischen Wandel kann der Mensch – und ich meine damit nicht ältere und betagte Leute – doch gar nicht mehr richtig verarbeiten, weshalb er sich in einer Art permanenten Überforderung befindet.

Klinger: Und sich deshalb nach den guten alten Zeiten zurücksehnt.

Wyss: Darum wohl auch die nostalgischen, wohligen, ja fast sehnsüchtigen Gefühle vieler Menschen, wenn sie ein altes Auto vorbeifahren sehen.

Klinger: Oder in unserem vbzonline-Magazin eine historische Tramgeschichte lesen.

Wyss: Wollen wir thematisch die Vergangenheit hinter uns lassen? Und wieder in die Gegenwart oder gar in die Zukunft blicken?

Klinger: Unbedingt! Darum sitzen wir ja eigentlich überhaupt zusammen – wegen dem Fahrplan der Zukunft …

Wyss: … den es ja zumindest im Grossraum Zürich wegen dieser Mobilitätsplattform eigentlich gar nicht mehr braucht.

Klinger: Also das kann man so nicht sagen.

Wyss: Doch! Man gibt in der App den Start- und den Zielort ein, und binnen Sekunden spuckt das Gerät die perfekte Verbindung aus. Bei einer optimalen Kombination der verschiedenen Verkehrsmittel wird man höchstens noch zwei, drei Meter zu Fuss gehen müssen. Statt die Leute zu mehr körperlicher Ertüchtigung zu bringen, gibt man ihnen ein Modell, das die totale Bequemlichkeit ermöglicht.

Klinger: Darum heisst es auch «Fahrplan» und nicht «Laufplan». Oder bist du der Ansicht, man müsste in die Fahrplanabfrage auch die Erinnerung einbauen, zwischen zwei Stationen einige Liegestütze oder zumindest Kniebeugen zu absolvieren?

Wyss: Ich dachte mehr an Klimmzüge, und zwar an einer Drohne hängend, immerhin reden wir hier von der Mobilität der Zukunft.

Klinger: Tatsächlich tüfteln etliche Städte an Flugtaxis, ich denke aber nicht, dass das schon bald soweit sein wird. Auch nicht, dass man sie als Sportgeräte nutzen kann. Allerdings steht schon auch die Frage im Raum, wie man die Zeit während der Reise besser nutzen könnte. Vielleicht werden in ferner Zukunft auch das Kriterien sein, die in so einer Mobilitätsplattform abgefragt werden können.

Wyss: Du denkst zum Beispiel an mobile und hochmoderne Waschautomaten, die man über die Mobilitätsplattform anfordern kann? Die würden dann genau da stehen, wo man umsteigt, man wirft rasch die Wäsche rein, erhält einen Coupon, das Superwaschdings sortiert, wäscht, trocknet, bügelt die Hemden, fügt Socken zusammen undsoweiter, und wenn man am Abend wieder am selben Ort umsteigt, hält man den Coupon an den Scanner und binnen Sekunden wird der Sack mit der fertigen Wäsche ausgeworfen – und abgerechnet würde alles Ende Monat über die Mobilitätsplattform.

Klinger: Ich schleppe im Alter wohl kaum Wäschesäcke in der Gegend herum. Für sowas hat frau dermaleinst einen Roboter!

Wyss: Vielleicht benötigen wir ja in Zukunft ohnehin keine Wäsche mehr. Was, wenn sich die «Künstliche Intelligenz» so entwickeln wird, dass sie gar keine Körper mehr braucht? Vielleicht passiert dann künftig alles auf einer rein geistigen Ebene, egal ob Kommunikation oder Liebe?

Klinger: Interessante Ansätze, welche Pille hast du geschluckt, die blaue oder die rote? Übrigens fällt mir dazu ein Buch ein, dass ich vor vielen Jahren gelesen habe, es hiess «Physik der Unsterblichkeit», und wenn ich mich richtig erinnere, war die Quintessenz vereinfacht ausgedrückt, dass wir dermaleinst allesamt als Variable in einem gigantischen Computer weiterexistieren.

Wyss: Dazu sage ich nur: «42». Bevor es soweit ist, müssen wir aber wohl erst noch die Phase mit den implantierten Chips durchlaufen.

Klinger: Ich bevorzuge Chips oral. Wie das Gustatorische wohl in der «Künstliche Intelligenz»-Fiktion gelöst werden wird? Wie dem auch sei, ich glaube, eines braucht es bei diesen Zukunftsperspektiven ganz bestimmt nicht mehr: einen Fahrplan!

Der Fahrplan der Zukunft...

... nennt sich «Mobilitätsplattform». Mehr Infos zu diesem sich in Entwicklung befindlichen Projekt gibt es hier.

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