In Berlin wird Mitte April 2016 in der «Europameisterschaft der Strassenbahnfahrer» der Champion unter den Trampilotinnen und -piloten gekürt. Auch Zürich entsendet seine besten Vertreter in die Metropole. Ermittelt wurden diese letzte Woche in einer spannenden Vorausscheidung in der Zentralwerkstatt Altstetten.
Geschmeidig wie eine Cobra legt sich das Tram in die Kurve. Der geübte Blick des Fahrers errechnet den Abstand, welcher die Flanke des Fahrzeugs von einer keck in die Kreuzung hinein ragenden Motorhaube trennt. Behutsam rollt das schwere Tram schliesslich auf die Haltestelle zu, noch wenige Millimeter und… Stopp!
Derlei Manöver sind eine Kunst. Wer sie souverän beherrscht, vermeidet nicht nur Unfälle, sondern kann sich Lorbeeren holen – und zwar an der Tram-EM in Berlin.
Ein Tram, 20 Trampiloten
Die Zürcher Tramfahrer-Elite, die sich letzten Donnerstag auf dem Platz der Zentralwerkstätte in Altstetten in unterschiedlichen Disziplinen mass, trat jeweils paarweise an – immer eine Frau und ein Mann, fast wie damals auf der Arche Noah. Zehn Paare hat das Los in die Vorausscheidung gespült, man hört klangvolle Teamnamen wie «Schienenheinis», «Überflüger» oder «Captain Blaubär». Von Aufregung ist vor dem Beginn des Wettkampfs wenig zu spüren, stattdessen weht der Teamgeist über den Platz, man scherzt und gibt sich der Vorfreude hin.
Die Dienstälteste vor Ort fährt schon seit 35 Jahren mit dem Tram durch Zürich. Auch ein Aspirant ist dabei, der heute seine bestandene Prüfung feiert.
Vier Präzisionsaufgaben per Tram sind zu bewältigen, aber auch ein Quiz mit Fragen wie «Welche Kirche hat das grösste Zifferblatt von Europa?» oder «Welches Tramdepot bekam für seine Architektur einen Preis?». Eine Million liegt nicht im Jackpot, doch das macht nichts, ein Ausflug nach Berlin ist schliesslich auch nicht zu verachten.
Dann geht es los: Das erste Team nimmt die Herausforderung an, welche da lautet: Das Tram ist auf mindestens 18 km/h zu beschleunigen und binnen 10 Sekunden so zu stoppen, dass der rote Klebestreifen an der dritten Türe über die Bodenmarkierung zu liegen kommt. Und zwar ohne Notstopp oder Schienenbremse. Wie soll das gehen? «Ja de muesch d’Ahaltestuefe korrigiere…». Also donnert das Tram über die Schiene, ein dumpfes Geräusch erklingt, gefolgt von einem hellen Plingen. Das Tram steht. Wenige Zentimeter hinter der Bodenmarkierung. «Ja, aber er hätt de Notstopp ineghaue. Das git Abzug!».
Kegel, die dazu gemacht sind, stehenzubleiben
Nun wird gekegelt. Jawohl, Sie haben richtig gelesen. Ein mit Luft gefüllter Ball von rund 1,5 Meter Durchmesser thront auf einigen Plastikbechern. Dahinter sind Verkehrs-Warnsignale, sogenannte Gummihüte, postiert. Der Ball darf angefahren werden, die Gummihüte nicht. Diese sollen durch den Ball zu Fall gebracht werden. Wieder nimmt das Cobra-Tram Anlauf, diesmal rückwärts – die Trampiloten stehen im Heck und betätigen den Controller mit konzentrierter Miene. Der federleichte Ball prescht den Hüten entgegen, die da schwer und reglos stehen bleiben. «Zero points, nul points» erschallt eine Stimme aus dem Hintergrund. Auch die nachfolgenden Teams tun sich schwer. Kollisionen sind gegen des Tramchauffeurs Natur. «Endlich darf ich mal etwas umfahren», freut sich dann doch einer, die Hände reibend. Als er an der Reihe ist, stoppt die Cobra zwei Meter vor dem Ball, ruckelt nochmals kurz und bleibt schliesslich stehen. Tja, das Unterbewusstsein… Allein der Dienstjüngste unter den Piloten tritt beherzt aufs Pedal, schiesst den Ball wie bei einem Elfmeter gegen die Gummihüte und bringt vier davon zu Fall.
Die nächste Aufgabe ist ein Kinderspiel für die Profis. Die Schnauze der Cobra soll möglichst direkt über der Bodenmarkierung halten. Also hopp, «nid pfüsele», ruft der Teamleiter, und los geht’s. Mit Schuss rast die Cobra auf ihr Ziel zu, zack und stopp. Drei Teams meistern die Aufgabe mit null Zentimeter, einer Punktlandung.
«Eine gute Mischung zwischen körperlicher Ertüchtigung, die während der Arbeit zu kurz kommt, und Präzisionsarbeit unter Stress – wie draussen auf der Strecke»
Was macht diese EM aus? «Eine gute Mischung zwischen körperlicher Ertüchtigung, die während der Arbeit zu kurz kommt, und Präzisionsarbeit unter Stress – wie draussen auf der Strecke», erklärt einer der Teilnehmer. Die ausgefüllten Quiz-Fragebögen geben weitere Auskunft: «Warum wollt ihr nach Berlin?», wird da gefragt. Um Kollegen und Kolleginnen aus ganz Europa kennenzulernen, aus Freude und Spass, aber auch ihr Verkehrswissen und ihre Fachkenntnisse möchten die Gewinner nach Berlin tragen. Und genau – die Currywurst ist dort einfach besser als bei uns.
Ein Rennen per Tram und zu Fuss
Danach geht’s zum Stafettenlauf und ja, es wird dabei tatsächlich gelaufen. Einer der beiden Trampiloten rennt nämlich neben dem Tram her, um seiner Teamkollegin lautstark und wild winkend zu signalisieren, wann sie halten soll. Diesmal hat das Tram hinter der Bodenmarkierung zu halten – und wie man weiss, haben Trampilotinnen und -piloten hinten keine Augen. Ist die Aufgabe absolviert, wird der Schlüssel an die Kollegin oder den Kollegen überreicht, und die Übung wird, nun in entgegengesetzter Richtung, wiederholt. Und zwar im Eiltempo, Zeit spielt eine Rolle. Eines der Teams hat schon einen Spurt hinter sich, die Schlüsselübergabe geht behände vonstatten, und dann geschieht – nichts. Das Tram steht still. «Er hätt de Controller nöd uf Null» mutmasst eine Stimme, «gjuflet» meint eine weitere. Die meisten aber legen ein rasantes Rennen hin – per Tram und zu Fuss.
Abgesehen von diesen körperlichen Strapazen wird aber auch der optische Auftritt der Protagonisten bewertet, sprich die Bekleidung kritisch beäugt – schliesslich soll das Siegerteam in Berlin «eine gute Falle» machen, wie man so schön zu sagen pflegt. Einer der Trampiloten zupft sein Hosenbein hoch. «Schwarzi Söcke, schwarzi Schueh – perfekt». «Ich han wissi Söcke aa», lacht einer der Umstehenden.
Am Ende des Tages brandet Applaus auf, die Gewinnerin und der Gewinner jubeln: Die «Schienenheinis» fallen einander glücklich in die Arme. «Berlin, Berlin, wir fliegen nach Berlin».
25 Teams aus 16 Ländern treten vom 22.-24. April 2016 an der 5. «Europameisterschaft der Strassenbahnfahrer/innen» in Berlin gegeneinander an. Höhepunkt des Anlasses werden die öffentlichen Wettkämpfe am 23. April sein. Mehr Informationen dazu gibt’s unter tramem.eu.