«Ich bin eher ein Chlütteri als ein Theoretiker»

Thomas Perret arbeitet bei den VBZ im Rahmen des Projekts 66+ als Trampilot. Im Gespräch erklärt der gelernte Landwirt, weshalb er nicht jasst, und was er am Tag des Swissair-Groundings erlebte.

Thomas Perret ist im Zürcher Oberland auf einem Bauernhof aufgewachsen. Nach der Lehre zum Landwirt hatte er Lust, die Welt zu entdecken. Dreimal umrundete er mit dem Flugzeug die Welt, in Neuseeland hätte er sich sogar ein Leben vorstellen können. Daraus wurde nichts, weil man damals auf der südlichen Hemisphäre keinen weiteren Bauern brauchen konnte. Deshalb ist er in der Schweiz geblieben, trotzdem hat es ihn immer wieder ins Ausland gezogen: So hat er unter anderem in Kiew die Antonow-Flugwerke besichtigt und in Moskau die Raumfahrtsmesse «MAKS» besucht. Als einen der schönsten Momente seines Lebens beschreibt er den Flug mit einem Kampfhelikopter. Nebenher ging er stets mindestens zwei verschiedenen Jobs nach, zeitweise auch drei.

Im März 2016 wurde Perret 66-jährig und war damit bereit, es ruhiger angehen zu lassen — zumindest in seiner Freizeit. Denn seit April ist er im Rahmen des Projekts 66+ weiterhin für die VBZ als Trampilot tätig.

Sie sind 66 Jahre alt und könnten Ihren Ruhestand geniessen, doch stattdessen arbeiten Sie nach wie vor als Trampilot. Haben Sie keine Lust auf gemütliche Kreuzfahrten und Seniorenwanderungen?

Doch, natürlich. Ich wandere regelmässig, deshalb bin ich Mitglied im Verein Zürcher Wanderwege. Und Kreuzfahrten liebe ich auch, obwohl ich schon zweimal knapp einer Katastrophe entkam. Das erste Mal war ich in Südamerika auf dem Amazonas unterwegs, der Kahn war überladen und die Besatzung besoffen, plötzlich liefen wir auf Grund. Zum Glück war der Fluss nicht tief und unser Schiff nah am Ufer, so konnten wir wenigstens von Bord springen.

Diese erste Havarie hat Sie offenbar nicht nachhaltig beeindruckt. Sie gönnten sich nochmals Ferien auf einem Schiff…

Ja, das war in China, auf dem Yangtse. Da hat unser Dampfer mitten in der Nacht das Ufer gestreift, so wie die Costa Concordia damals vor der Insel Giglio. Durch den Ruck des Aufpralls bin ich erwacht und sah, dass Wasser in meine Kabine eingedrungen war.

Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Nicht viel, ich schnappte meinen Pass, weckte meine Schwester und sagte ihr: «Marianne, cool bliibe jetzt». Sie ist Diabetikerin, das Wichtigste waren also die Insulinspritzen. Unsere Koffer liessen wir in den Kabinen zurück. Sogar ihren Reisepass konnten wir in der Eile nicht mehr finden. Wir wollten uns nur möglichst schnell ans Oberdeck retten. Zum Glück blieben alle Passagiere unverletzt.

Sind Sie einer, der das Risiko sucht?

Nein, aber Technik fasziniert mich, deshalb nütze ich sie gerne. Es ist doch unglaublich, dass ein so riesiges Schiff mit einer halben Stadt an Bord überhaupt schwimmt, und dass ein Airbus A380 mit einem Leergewicht von 550 Tonnen abhebt und mit über 800 Stundenkilometern in die Welt hinaus fliegt. Verrückt, oder?

Wieso sind Sie nicht Pilot geworden?

Das wär mein Traumjob gewesen. Ich hab dann aber schnell gemerkt, dass ich keine Chancen habe. Schon nach der ersten Selektionsstufe war Schluss. Dann versuchte ich, die Privatpilotenlizenz zu absolvieren, aber auch dort bin ich durch die Theorieprüfung gesaust. Ich bin halt nicht so der Theoretiker. Ich bin Praktiker — ein «Chlütteri». Bis zum Grounding der Swissair konnte ich aber immerhin als Chauffeur der Flugbesatzungen am Flughafen Zürich arbeiten.

Ich glaube, wenn ich weiterarbeite, dann hält mich das nicht nur körperlich fit, sondern auch mental.

Wie haben Sie diesen 2. Oktober 2001 erlebt, als die ganze Swissair-Flotte mangels liquider Mittel am Boden bleiben musste?

Ich kann mich noch sehr genau erinnern, dass ich die Piloten und Stewardessen für einen Flug nach New York in meinem Minibus zum Rollfeld gefahren hatte. Als sie in die vermeintlich abflugbereite Maschine einsteigen wollten, kam der Tankwart und meinte mit Tränen in den Augen: «Duet mer leid, aber ich chan eu kei Moscht me geh, ihr sind pleite!». Wir waren alle sprachlos und schockiert. Es wurde zwar immer gemunkelt, dass etwas im Busch ist, aber als die Nachricht kam — so «Päng» – das war heftig. Danach habe ich die Besatzung wieder zurück in die Zentrale gefahren.

Haben Sie daraufhin die Kündigung erhalten?

Ja, einige Tage später. Ich war gerade daran, den Minibus vorzubereiten, da wurde ich per Funk in die Disposition gerufen, und dann ging‘s zackig: «Danke für Ihre Isatz, Sie sind entlah, wiederluege Herr Perret.» Fünf Minuten hat das Gespräch gedauert, und schon war ich weg.

Und ohne Job.

Nein, das zum Glück nicht. Zu diesem Zeitpunkt fuhr ich nebenbei schon Tram und hatte noch den elterlichen Bauernhof, auf dem ich Heu produzierte. Ich konnte mein Pensum bei den VBZ sehr kurzfristig aufstocken.

Das ist 15 Jahre her. Einmal muss doch Schluss sein mit dem Krampfen.

Das Tramfahren ist für mich kein Krampf! Mir macht es Spass, ein so grosses Gefährt durch Zürich zu lenken. Ich glaube, wenn ich weiterarbeite, dann hält mich das nicht nur körperlich fit, sondern auch mental.

Thomas Perret beim Bahnhof Wiedikon.

Könnte auch einfach das Gefühl, noch gebraucht zu werden, der Antrieb sein?

Ja, das ist nicht ganz abwegig. Aber eben, die Arbeit hält einen auch fit. Das Tram hat zwar durch die Gleise einen vorgegebenen Weg, den es fährt, trotzdem muss ich mit dem Kopf bei der Sache sein. Es kann jederzeit ein Fussgänger vors Tram laufen.

Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert, den Ruhestand hinauszuzögern?

Verheiratet bin ich nicht. Zum Glück. Da hat mir also niemand reingeschwatzt. Manche Kollegen konnten aber meinen Entschluss nicht verstehen. Dennoch bin ich froh, nicht aufgehört zu haben, gerade auch in Bezug auf Arbeitskollegen und Freunde. Ein paar von ihnen haben sich frühpensionieren lassen, und kaum waren sie in Rente, bereuten sie den Schritt. Sie langweilen sich den ganzen Tag und finden es «en Seich».

Besteht auch bei Ihnen die Gefahr, dass in der Freizeit Langeweile aufkommt?

Nein, sicher nicht. Und falls doch, mach ich schleunigst was dagegen (lacht). Ich wüte in meinem Garten oder treffe alte Freunde in der Beiz. Es gibt zwei Grüppli, die ich regelmässig besuche. Den Singles-Treff und den Eingeborenentreff. Dort sitzen wir ein bisschen, schwatzen…

…trinken Kafi Luz und jassen.

Nein (lacht). Jassen tu‘ ich nicht, ich bin kein Spielertyp. Und Schnaps mag ich auch nicht, genauso wenig wie Bier und Wein — obwohl mein Bruder Winzer ist im Piemont. Jänu. Das Wort «Sucht» kommt ja von «siechen», und wenn einer siecht, dann leidet er an einer Krankheit. Bei den Mobiltelefonen ist es dasselbe. So viele Leute tippen ständig am Handy rum, ich will auf keinen Fall abhängig werden von dieser neumödigen Technik. Wenn ich ins Ausland verreise, bleibt mein Handy daheim. Ich werde oft gefragt, wie man mich im Notfall erreicht, dann sage ich immer: Es gibt keine Notfälle.

Kurz erklärt: das Projekt 66+

Beim Projekt 66+ erhalten Mitarbeitende die Möglichkeit, nach dem Erreichen des 66. Altersjahres weiter für die VBZ tätig zu sein – sofern an deren fachlicher Arbeitsleistung Bedarf besteht. Die Anstellung ist auf ein Jahr befristet und erfolgt nahtlos an die reguläre Beschäftigung. Wiederholte Anstellungen sind bis maximal zum 70. Altersjahr möglich – unter der Bedingung, dass die medizinischen Anforderungen erfüllt sind und die Fahrberechtigungen vorliegen. Das Arbeitspensum variiert zwischen 10 und 40 Prozent. Derzeit machen acht Mitarbeitende der VBZ bei diesem Pilotprojekt mit. Das Projekt entstand aufgrund der schweizweit tiefen Arbeitslosenquote sowie dem wachsenden Mangel an Nachwuchs in diversen Berufssparten. Die VBZ hat zunehmend Mühe, offene Stellen zu besetzen. Der betriebsinterne Altersdurchschnitt von 47 Jahren verschärft die Situation zusätzlich: Schon heute muss ein Grossteil der jährlich ca. 200 freien Stellen wegen Pensionierungen neu besetzt werden. Über 400 der 2500 VBZ-Mitarbeitenden sind bereits im pensionsfähigen Alter – davon über die Hälfte im Fahrdienst. Jährlich sind somit im Fahrdienst rund 100 Stellen zu besetzen. Zugleich zeigt sich, dass sich Menschen im Pensionsalter zunehmend derart guter körperlicher und geistiger Verfassung erfreuen, dass vermehrt der Wunsch geäussert wird, über das Pensionierungsalter hinaus arbeitstätig zu bleiben. Der Stadtrat hat deshalb anlässlich seiner Sitzung vom 16. März 2016 das Pilotprojekt 66+ bewilligt. 

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