Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Orten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute stellt uns Natascha Klinger das quirrlige Treiben in einem Zug der burmesischen Myanma Railways vor.
Qualmende Fahrgäste, Michael Jackson und Holz hacken im fahrenden Zug – undenkbar? Gewiss, vor allem der Einsatz von Macheten dürfte auf der Strecke Zürich – Bern unweigerlich zum Einsatz eines Sonderkommandos führen. Gänzlich unbewegt hingegen lassen solcherlei Kinkerlitzchen die Gemüter während der Fahrt von Pyin Oo Lwin nach Naung Peng. Zwischen diesen zwei Ortschaften in Myanmar, Burma oder Birma (das Land hat viele Namen) sind wir unterwegs, und haben uns der Empfehlung, in der gehobenen Klasse zu reisen, widersetzt. Wir sollen diesen Entscheid nicht bereuen.
276 Kilometer rollende Marktatmosphäre
Wie wir uns auf die leuchtend blauen, harten Bänke unseres Transportmittels fallen lassen, deutet noch nichts auf die Kuriosa hin, die wir in diesem etwas abgehalfterten Zug der Myanma Railways bald erfahren werden. Zwar umgibt das Abteil schon vor der Abreise die Aura eines exotischen Markts. Bambuskörbe mit Tomaten und Kartoffeln grenzen unter den Sitzgelegenheiten an die Waden der Reisenden. Von draussen strecken fliegende Händlerinnen Blumen in die weit geöffneten Fenster oder balancieren mit aufrechtem Gang allerlei Snacks in den Behältnissen auf ihren Köpfen. Nur zwei ältere Herren aus der Shan-Region wirken schon etwas müde. Sie kehren, nach einem Besuch in Mandalay, in ihre weiter nordöstlich gelegene Heimat zurück. Für die beiden ging es schon vor dem ersten Hahnenschrei, um vier Uhr in der Früh los. 14 Stunden dauert die anno 1898 von der Burma Railway Company gebaute, rund 276 Kilometer lange Strecke bis zur Endhaltestelle in La-Shio, für das Ticket sind rund zwei Franken zu löhnen.
Das Frühstück wird mit den Mitreisenden geteilt
Ein grober Ruck hebt uns beim Ankoppeln eines zweiten Waggons für wenige Millimeter aus den Sitzen. Wir ahnen, dass diese Reise vielleicht etwas bewegter werden könnte, als es sich Herr und Frau Schweizer gewöhnt sind. Dann ein Pfiff, pünktlich um 8.22 Uhr nach Fahrplan übrigens, und der Zug rollt schwankend an, gerade so, als sei er eben in schlaftrunkenem Taumel aufgestanden und unschlüssig, ob er sich nicht lieber gleich wieder aufs Ohr legen möchte. Einmal erwacht, wirkt das Fahrzeug noch immer leicht verschlafen: Seine Höchstgeschwindigkeit beträgt gerade mal behäbige 35 Stundenkilometer. Das sind dann immer noch rund zehn Stundenkilometer schneller, als wir es einige Tage zuvor auf der ringförmig angelegten Strecke der Yangon Circular Railway erleben durften, welche die Umgebung rund um die Hauptstadt bedient.
Etwas munterer als das Transportmittel ist die Mehrheit der Passagiere. Eine Gruppe junger Erwachsener – Studenten einer lokalen Sprachschule, wie wir später erfahren – dominiert das Abteil. Sie unternehmen während ihren Ferien eine gemeinsame Spazierfahrt. Die jungen Männer füllen den Raum mit dem Plingeln ihrer Handys, die Frauen stimmen mit fröhlichem Lachen in die Geräuschkulisse ein. Nur die zwei älteren Herrschaften zu unserer Rechten entziehen sich dem Rummel. Der vielleicht 70-jährige, mit tief in die Stirn gezogener Wollmütze und eingemummt in seine Jacke, scheint der kühlen Morgenluft trotzen zu wollen, die sich mit ihren 20 Grad an diesem südostasiatischen Wintermorgen erst allmählich zu ihrem sengenden Höhepunkt hin entwickelt. Auch die Frau ist dick eingepackt und unterbricht ihren gut durchgeschüttelten Schlaf nur gelegentlich für einen Blick aus dem Fenster.
Mit zunehmender Betriebsamkeit der Lebensgeister meldet sich auch der Hunger, und so macht zum Frühstück ein Topf mit heissen Teigtaschen die Runde. Auch wir, die Fremden, werden unbefangen eingeladen, und so tauchen wir die dampfenden, mit Koreander und Fisch gefüllten Leckereien, erwartungsfroh in die Chillisauce. «Kaung kaung sar gya bar», «en Guete!»: Kein Zweifel, das Geschmackserlebnis verdrängt jedes bis eben noch vorhandene Verlangen nach einem gewöhnlichen Croissant.
Ein Zug, der zu Michael Jackson tanzt, und ein Hauch von Anarchie
Während vor den Fenstern im zarten Licht des erwachenden Tages endlose Felder und Dörfer mit einfachen Hütten vorbeiziehen, wird die im Zug aufgekommene Melodie an Umgebungsklängen nun um ein paar Noten mehr ergänzt. Man singt und klatscht in unserem Vehikel aus voller Brust. «Heal the world», fordert die helle Stimme aus der Musikbox. Nicht – wie sonst üblich – als Cover-Version in burmesischer Sprache, sondern im Original von Michael Jackson. Wir stimmen herzhaft ein.
Die Eisenbahn schaukelt, gleich einer Hängematte im Sturm, hin und her, hebt und senkt sich gleichzeitig vertikal, als versuche sie, die Eisenbahnschwellen mit einem eleganten Hüpfer zu überwinden. Ob das Gefährt schon vorher in dieser Weise getanzt oder sich eben erst dem Rhythmus der Ballade unterworfen hat, bleibt der Phantasie des im Takt mitwippenden Betrachters überlassen. Nebenan zündet sich der ältere Mann lässig eine Zigarette an und bläst den Rauch genüsslich aus dem Fenster. Wie er sich nun durch unsere amüsierten Blicke ertappt fühlt, grinst er spitzbübisch, zückt die Schachtel und bietet uns ebenfalls einen seiner Glimmstängel an. Vom Hauch anarchischer Rebellion ergriffen, kann man sich der Mittäterschaft nur schwer entziehen. Selbst als Nichtraucher.
Pflaumen oder Zigaretten gefällig?
Der zugfahrenderweise aufs Rauchverbot konditionierte Europäer könnte übrigens, so er es im Abteil partout nicht wagt, alternativ auch in der Türe sitzend paffen, die während der Fahrt ja ebenfalls sperrangelweit offen steht. Oder er könnte sein Gebiss ins gruslige Rot des Betelpfeffers tauchen, welches von den stetig im Zug zirkulierenden Damen nebst Wachteleiern und suspekten Leckereien in bunten Tüten angeboten wird. Er würde sich dann aber unweigerlich in dem Dilemma wiederfinden, wohin er die Scheusslichkeit spucken möchte. Dem Anstand geschuldet käme nur die Toilette in Frage (den örtlichen Gepflogenheiten entsprechend eher ein Loch im Boden), was in Anbetracht des heftigen Geruckels und Geschaukels erhöhte Anforderungen an die Treff- ebenso wie an die Trittsicherheit stellt (das gilt übrigens auch für die übrigen gängigen Tätigkeiten auf dem Lokus…).
Wer einen gesünderen Lebensstil bevorzugt, kann einen Beutel mit frischen, gelben Pflaumen für 1000 Kyat, das sind umgerechnet 66 Rappen, erwerben. Die insgesamt 14 Portionen hat der Händler für 10‘000 Kyat erhalten, am Ende des Tages wird er also CHF 2.65 eingenommen haben, so er alles verkauft. Wer aufgepasst hat, weiss, dass dieser Tageslohn nur um wenig mehr dem Preis entspricht, welche die Reise auf der Gesamtstrecke kostet. Nicht ganz so gesund (aber köstlich), weil mit reichlich Zucker versehen, ist der typische Myanmar-Tee, den man hier heiss in Plastikbeuteln kaufen kann und der nun in eben diesem Moment an unserer Lippe erzittert. Unser Eisenross ist nämlich zum Stillstand gekommen.
Nach dem Gokteik-Viadukt kommt der Holzspalter
Grund für das Intermezzo ist das Gokteik-Viadukt, der eigentliche Anlass unserer Zugreise. Es handelt sich um die höchste Brücke in Myanmar, einst sogar das höchste Eisenbahnviadukt der Welt. Nicht nur wir Touristen sind begierig auf ein Foto dieses aus dem Jahre 1900 stammenden, 102 Meter hohen Meisterwerks. Das scheint auch der Zugführer zu wissen, allein so ist die Unterbrechung zu erklären, während der geknipst werden darf, was das Zeug hält. Ehe uns klar wird, was los ist, sind alle auf den Beinen und klettern aus dem Wagen. Selfie hier, Selfie da, man grinst in die Kamera, den grimmigen Wächter eingangs der Brücke im Hintergrund.
Der kurze Halt hat einen neuen Gast ins Abteil gespült, der jetzt, während der Zug wieder seinem Ziel entgegenholpert, breitbeinig im Korridor stehend seine Stimme über die Köpfe der Passagiere hinweg erhebt. Der für die sonst so zurückhaltenden Burmesen recht kraftvolle Ausdruck in seinem Singsang lässt die Vermutung zu, er wolle die ausgelassene Truppe zur Ordnung rufen. Verstärkt wird der unheilvolle Eindruck durch eine eiserne Machete, die er offensichtlich einzusetzen gewillt ist. Kurzentschlossen schnappt er sich einige Holzstücke, zückt sein Messer und zerhackt das Material auf dem Boden des Zuges. Da bekommt der Begriff «Holzklasse» doch eine völlig neue Bedeutung… Dann die Entwarnung: Das wohlriechende Holz soll gegen Rücken- und Nackenbeschwerden helfen und findet an Ort und Stelle grossen Absatz. Auch die ältere Dame, welche den Trubel bisher mit stoischem Gleichmut ignoriert hat, schnappt sich ein Stück der Rinde, schürzt ihre Lippen, und hält auf diese Weise das Holz unter ihrer Nase fest. Verschmitzt lächelt sie uns zu, mit ihrem hölzernen Schnurrbart.
Unterdessen steht die Sonne steil am Horizont, der Zug rumpelt am Bahnhof von La-Shio ein. Unter dem Eindruck unbekümmert hemdsärmliger Geschäftigkeiten in «unserem» Abteil, verabschieden wir uns von den so herzlichen Mitreisenden, «Tat tar», «auf Wiedersehen», und steigen aus. In der Gewissheit, dass wir bei unserer nächsten Zugreise, daheim in geregelten und ordentlichen Verhältnissen, die ungezwungene Lebensfreude im burmesischen ÖV vermissen werden.