Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Diesmal: Die Haltestelle Sonneggstrasse.
Dienstag, 31. August, 11.51 Uhr, Tramhaltestelle Sonneggstrasse
Dass diese Geschichte beim berühmten amerikanischen Landschaftsmaler Bob Ross beginnt, obwohl es eigentlich um Wein gegangen wäre (und schliesslich noch um ganz anderes geht, zum Beispiel um einen in aller Öffentlichkeit ungestraft bieselnden Knaben!), ist sozusagen ein glücklicher Unfall.
«Happy accidents» – oder eben: «kleine Unfälle» – war Bob Ross’ schöngefärbtes Synonym für Fehler, die der magische Pinsler dann vor laufender TV-Kamera flugs in eine Wolke oder ein Gestrüpp oder einen Stein zu verwandeln wusste. Auch deshalb hat der Mann mit dem künstlichen Afro und einer fast schon spirituellen Erscheinung hunderttausende Menschen von der positiven Kraft des Malens überzeugt. Leider, dies zeigt der kürzlich bei Netflix erschienene Dokumentarfilm «Happy Accidents, Betrayel and Greed», hatte sich der 1995 verstorbene Künstler jedoch auf die falschen Geschäftspartner eingelassen, worunter sein Sohn und enge Freunde bis heute leiden.
Doch zurück zum Thema, also dem «happy accident», der mir passiert ist. Wie jeder Unfall hat er einen Ursprung, und dieser befindet sich in Höngg, namentlich beim «Rebberg an der Klingen», der sich fast in katzenartiger Wohligkeit an die darüber liegende Fussgängerallee schmiegt. Wie auch immer, wichtig ist, dass ich zusammen mit einem Häufchen lieber Menschen vor einigen Wochen just diese Allee entlang spaziert bin – notabene rätselratend, und das an einem Nachmittag, der so heiss war, dass wir uns pausenlos nach einer Badi oder gar nach einer Kühltruhe sehnten; es gibt definitiv unzählige bessere Ideen, als bei solchen Temperaturen einen Foxtrail zu absolvieren.
Der plötzliche Weinschub
Dennoch, und das mag nun erstaunen, war der Spaziergang schön. Ich meine: richtig schön. Oder deutlicher: Diese Szenerie war so unfassbar betörend, dass ich mir am selben Abend (natürlich abgesehen vom Wunsch nach ein bisschen Kühle) nichts sehnlicher gewünscht hätte, als das Bob Ross rasch 30 Minuten vom Himmel hinabstiege – mehr Zeit hat er für seine Gemälde ja nie benötigt – und diese pittoreske Höngger Ansicht auf einer Leinwand festhalten würde.
Selbstverständlich ist das nicht geschehen, Wunder passieren im religiösen Rahmen und manchmal noch im Sport. Gleichwohl ist es kürzlich an einem hundsgewöhnlichen Tag zu einem eigenartigen Vorkommnis gekommen, das ziemlich sicher in direktem Zusammenhang mit diesem Spaziergang steht – als ich bald nach dem Aufstehen zufällig nochmals an diesen hübschen Rebberg dachte, hat das beinahe zu einem Weinschub geführt! Keine Ahnung, ob der Begriff Duden-proofed ist, doch er ist ja sozusagen selbsterklärend, weshalb Sie ahnen, was jetzt kommt: Ähnlich wie bei einem Hormonschub bin ich ohne Vorwarnung wie von Sinnen! Statt nach Kaffee habe ich unbändige Lust nach einem Glas weissen Château-Neuf-du-Pape – die Uhr auf dem Smartphone zeigt 9.02 Uhr! Selbstverständlich ist diese köstliche Rarität in meinem Mittelstandhaushalt nicht vorhanden, und zum Glück steht auch sonst keine Buddel rum, weshalb ich dann doch einen braunen Muntermacher zubereite.
Doch schon ist Weinschub-Phase zwei eingeläutet: Gänzlich willenlos durchforste ich das Internet nach einem Weinkühlschrank und bin nahe dran, ein echt tolles Modell – Platz für 165 Flaschen, zehn Abteile, drei verschiedene Temperaturzonen, UV-Filter usw. – zu ordern, die Bestellung scheitert letztlich nur daran, dass ich mich in meiner fiebrigen Ekstase nicht mehr ans Paypal-Passwort erinnere. Ich denke, man kann hier trotz anderem Kontext durchaus von einem «glücklichen Unfall» sprechen. Anyway, bereits geht die Suche weiter, nun sind die Fachbücher dran. Ich bestelle fünf Stück (!) über Weinkunde, Rebsorten etc. auf Rechnung (was ich in jenem Moment noch nicht weiss: drei davon werde ich später nach einem flehenden Telefongespräch mit dem Kundendienst ohne Zusatzkosten retournieren dürfen).
Saitenlose Gitarre und Letzigrund-Lautsprecher
Phase vier: Ich rufe in einem bekannten Gartencenter an und erkundige mich, ob sie in der Obstbaumabteilung eigentlich auch Rebstöcke hätten – Antwort: «Jawohl, das führen wir» – und ob sie mangels Garten und Rebberg auch dachterrassentauglich wären – Antwort: «Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst, oder?».
Es folgen Schubphase fünf (verschiedene Warenkörbe bei Online-Weinhändlern werden mit insgesamt rund 80 Flaschen Rot-, Rosé- und Weisswein gefüllt, zum Glück realisiere ich rechtzeitig, dass in meinem vollgestopften Keller von Flohmi-Kisten über die saitenlose Gitarre bis zu den Lautsprechern aus dem früheren Letzigrund-Stadion vieles rumsteht – aber definitiv kein Weinregal, um die Ware fachgerecht zu versorgen) und sechs (ich drucke seitenlange Infos zum Lehrgang «Sommelier de Fromage» aus, schliesslich weiss ja jedes Kind: Zum guten Wein gehört guter Käse!), und als meine Augen gegen 11.15 Uhr wegen der intensiven Computerrecherche zu ermüden beginnen, komme ich (nach wie vor irgendwie «fremdgesteuert») zum Schluss, dass a) eine Dosis frische Luft nicht schaden würde, und dass ich dieses Unterfangen b) ja grad mit einem neuen Beitrag für meine vbzonline-Serie «Innehaltestelle» verbinden könnte – passenderweise an einer Tram- oder Busstation, deren Namen im Zeichen des Weins steht.
Ich bin Netzwerk-Freak, deshalb kommen mir gerade mal zwei in den Sinn: Die Winzerstrasse in Höngg sowie die Weinbergstrasse oberhalb des Central. Schon wieder nach Höngg? Nein, bei aller weinseliger Euphorie wäre mir dies doch zu fern. Aber rasch per Velo zum Bahnhof und von da hinaufspaziert, doch, das passt.
Gesagt, getan. Tatsächlich sehe ich bald ein Strassenschild namens «Weinbergstrasse», passiere die Kurven-Haltestelle «Haldenegg», laufe weiter gerade, sehe links das polizeilich bewachte türkische Generalkonsulat, und kurz darauf zücke ich das iPhone, um das für die Serie obligate Haltestellen-Foto zu schiessen … und lese, weiss auf blau: «Sonneggstrasse». WTF! Die nächste Station stadtauswärts heisst Ottikerstrasse, das weiss ich hundertpro, im Haus gegenüber wohnt ein Freund. Danach folgt die Röslistrasse, in der dazugehörigen Röslischüür durfte ich schon zweimal als DJ amten. Und next stop ist der Schaffhauserplatz, von wo nun, man hat es lesen müssen, der einzigartige Fussball-Corner Oechslin endgültig aus dem Stadtbild verschwindet.
Bob Ross spricht mit mir
Mein einlullender Weinschub ist einer ebenso plötzlichen wie unerwarteten Nüchternheit gewichen. Sonneggstrasse, wahrhaftig, damned. Und ich war mir so sicher! Zur endgültigen Vergewisserung gebe ich bei der VBZ-Online-Suchfunktion «Weinbergstrasse» ein. Die Recherche ergibt tatsächlich einen Treffer. Nur: die Haltestelle befindet sich nicht oberhalb des Central an der Tramlinie 7 oder 15, sie befindet sich in Kilchberg, an der Buslinie 161. Ich Nilp!
Die grosse Scham schleicht sich an wie eine Boa constrictor, bereit, mich mit Haut und Haar zu vereinnahmen. Doch genau in dem Moment tanzt Bob Ross durch die Gedanken, ich glaube ihn mit seiner archetypisch sanften Stimme sagen zu hören: «There are no mistakes, dear Thomas, there are just happy little accidents.» Recht hat er! Und so versetze ich mich getreu seinem Motto in neugierige Stimmung, offen für alles, was mir der glückliche Unfall hier an der Station Sonneggstrasse bescheren wird.
Zum ersten thronen da mal diese zwei herrschaftlichen Häuser an der Sonneggstrasse 86 und 88, die einen Wintergarten haben, der irgendwie nicht von dieser Welt scheint (aus Ehrfurcht verzichte ich gar auf ein Foto). Und sie sind nicht nur herrschaftlich, sondern offenbar auch wichtig – weil nämlich mit diesen offiziellen blauen Schildern ausgestattet. Dasjenige bei der Nummer 86 verrät, dass das Neurenaissance-Gebäude anno 1896/97 von Architekt Richard Schuster erstellt wurde, und dass es seit 1999 unter Denkmalschutz stehe. Naja, nicht wirklich der Brüller; ich hatte gehofft, dass die blaue Tafel von dadaistischen Saufgelagen, einem berühmten Bewohner oder sonst was Wildes erzählen würde.
Aufregender ist das, was ich nach einer 90-Grad-Rechtsdrehung entdecke. Da steht nämlich ein nackiges Bübchen mit eigenartiger Frisur, stützt sich mit den Händchen an der Wand ab – und lässt es einfach laufen! Was man dazu sonst noch wissen muss, hielt der inzwischen pensionierte Journalist Jürg Rohrer einst im «Tages-Anzeiger» fest: «An der Ecke Weinberg-/Sonneggstrasse sollte einen besser nicht der höllische Durst packen. Dort gibt es zwar einen Brunnen, doch das Wasser fliesst aus dem … aus dem … aus dem … Nun, der Brunnen heisst ‹Manneken Pis›. Radikalfeministisch liesse sich sagen: Endlich mal ein vernünftiger Zweck für dieses Dingsda. Aber mindestens die Hälfte der Menschheit ist da gewiss anderer Meinung.»
Und dann wäre da noch diese kryptische Türe mit einem roten Plakat voller Hashtags. #Firmenevents. #Familie. #Studenten. #Geburtstage. #Wennesnichtregnet. #Vordemausgang. #Polterabende. #Stattalleingamen. #Analogstattdigital. Und mitten drin: #Tramfahrer!
Mein früheres Ich hätte gedacht: «Wie bekloppt ist das denn – ich würde doch einfach gern wissen, was diese Leutchen überhaupt anbieten!» Mein neues Ich aber denkt: «Was für ein verflixt gut gelungener happy little accident!»