Fehlende Orientierung und angeschlagene Teams: eine Zitterpartie

Auch vbzonline spielt die EM 2021 durch – allerdings nicht auf dem grünen Rasen, sondern auf Strassen und Schienen: Wir lassen nämlich den ÖV der insgesamt 11 Austragungsorte gegeneinander antreten! Ein Jux? Ja, aber einer, bei dem einiges zu lernen ist. Das heutige Duell: St. Petersburg gegen Bukarest.

Herzlich willkommen zum nächsten heissen Duell an der ÖV-Euro 2021. Heute heisst es Russland gegen Rumänien, und dabei treffen zwei Teams aufeinander, von denen das eine arg unterschätzt wird. Der ÖV von Bukarest sei veraltet, heisst es im Vorfeld in den Medien. So ganz wahr ist das aber nicht. Immerhin besitzt die Stadt vierzehn (14!) Niederflurtrams, die anno 2007 erbaut wurden. In Sankt Petersburg wiederum stammt das jüngste Tram aus dem Jahr 2008. Das reicht – wenn auch knapp – zur Führung von St. Petersburg!

Das Spiel geht weiter. Und zwar mit der Tatsache, dass das Tramnetz von St. Petersburg mit dem Eröffnungsjahr 1863 genau neun Jahre älter ist als jenes seiner Kontrahentin; in Bukarest liess man «erst» 1872 erste Fahrzeuge durch die Stadt rösseln. «Alt» allein ist ja nun aber weder im Fussball noch beim ÖV ein wirklicher Pluspunkt. Fakt ist: für das Tramnetz von St. Petersburg verwendet Wikipedia das wenig rühmliche Adjektiv «verschlissen». Anderswo wird es gar als «Schatten seiner selbst» beschrieben – eine Bezeichnung, die bei Fussballern quasi als Höchststrafe gilt! Wir sehen das nicht ganz so eng und nennen es «traditionsreich». Dennoch: Weil Bukarest seit 1930 ehrgeizig auf die Modernisierung des ÖV setzt – insbesondere auf Eigentrassen und somit auf eine Beschleunigung der Strassenbahn – gelingt den Rumänen nun der nicht unverdiente Ausgleich, es steht 1:1.

Schön verschlissen oder einfach nur schön?

Anders als bei der jeweiligen National-Elf, wo – wie der Begriff bereits sagt – jeweils nicht mehr und nicht weniger als exakt elf Frauen oder Männer auf dem Feld gegeneinander antreten, ist Grösse im ÖV durchaus ein Faktor. Könnte dies demnächst zum nächsten Treffer für die Russen führen?

Genauso ist es! St. Petersburg düpiert Bukarest mit der Tramnetz-Streckenlänge, 228 stehen gegenüber 137 Kilometern, die Fans schreien «Toooor!!!» Aber Halt, Moment, der VAR (für Nicht-Fussballfans: der Video Assistant Referee) muss eingreifen. Denn natürlich dürfen bei diesem Vergleich die Relationen nicht ausser Acht gelassen werden – St. Petersburg hat mit fast fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zweifelsfrei mehr Fahrgäste zu transportieren als die Hauptstadt von Rumänien, die es nur auf etwas über 1,8 Millionen bringt. Der erzielte Treffer hält der Überprüfung durch den VAR schliesslich nicht stand, der Schiri annulliert das Tor der Russen wegen dem knappen Offside, es steht weiterhin 1:1.

Darum greift St. Petersburg nun mit der Metro an. Und zwar gleich mit Superlativen-Power! 1. Die Stadt nennt das tiefst gelegene U-Bahn-System der Welt ihr eigen; in der Regel sind die Stationen 70 bis 100 Meter unter dem Boden – wegen des Sumpfs (also jenem in der Landschaft, nicht in der Politik … honi soit qui mal y pense). 2. Die Metro von St. Petersburg gilt architektonisch als eine der schönsten der Welt. Doch trotz torgefährlicher Situation fällt kein Treffer – das Handicap sind die gänzlich komfortfreien Wagen dieser Metro, «schön» sucht man hier vergebens.

Nächster Angriffsversuch. Mit rund 125 Kilometern Streckenlänge und 72 Stationen schlägt die einstige Zarenstadt die Bukarester Metro, die «nur» 53 Stationen auf 71 Kilometern Streckennetz zustande bringt. Dennoch überstehen die Rumänen auch diesen Angriff unbeschadet, denn wiederum gibt die Grösse der Stadt den Ausschlag. Und genau mit dieser Grösse setzt Bukarest nun gar zum unerwarteten Konter an: Fünf Metrolinien in St. Petersburg gegenüber deren vier in Bukarest, das ist bescheiden, zu bescheiden! Tor für das erheblich kleinere Bukarest, das bedeutet die eher überraschende, aber nicht unverdiente Führung.

Wenig Rollmaterial, und wo sind die Fahrpläne?

Die Zitterpartie geht weiter. Mit Fakten, die weder dem einen noch dem anderen Team klar Vorteile verschaffen. Beide Städte verfügen über Busse. Okay. Klar ist auch, dass das Tram in St. Petersburg stark von den sogenannten Marschrutkis – das sind Sammeltaxis – konkurriert wird. Aber Bukarest kann diese Schwäche nicht ausnützen.

Das Spiel plätschert nun vor sich hin, die Kräfte scheinen bereits zu schwinden. Was nicht erstaunt, schliesslich haben beide Städte schwere Zeiten hinter sich, was auch den öffentlichen Verkehr nicht unberührt liess. Mit Beginn der Perestroika anno 1986 schrumpfte der ÖV in St. Petersburg jedoch noch etwas stärker. Doch was ist jetzt los? Rote Karte für St. Petersburg! Quasi aus heiterem Himmel, was ist das passiert? Aha, jetzt ist alles klar: Offenbar ist in St. Petersburg zu wenig Rollmaterial vorhanden, um das grosse Streckennetz zu bedienen. Ohne Fahrzeuge nützt natürlich auch das beste Netz nichts – das Fussballteam, das nicht am Ball ist, kann bekanntlich auch kein Tor erzielen.

Verbindliche Fahrpläne sind in Sankt Petersburg eher nicht vorhanden, das gilt aber auch für Bukarest. Es ist jetzt ein zähes Spiel, beide Mannschaften kommen nicht mehr richtig auf Touren, obwohl sie verbissen kämpfen. Nun aber sehen wir einen womöglich letzten Angriffsversuch des Favoriten aus Russland, er versucht, eine eklatante Schwäche der Rumänen auszunützen: Wer nämlich in Bukarest eine Fahrkarte erwerben möchte, tut gut daran, der rumänischen Sprache mächtig zu sein:  Einheimische und selbst das Personal an den ÖV-Schaltern können aufgrund der eher selten vorhandenen englischen Sprachkenntnisse oftmals nicht weiterhelfen. Die Bukarester versuchen den Angriff mit der Bemerkung zu parieren, Touristen, die zu Fuss unterwegs seien, würden mehr von der Stadt sehen und blieben so geistig wie sportlich fit. Mit diesem in grösster Not geborenen Argument kann der Ball tatsächlich noch knapp zum Corner geklärt werden, doch der bringt nichts mehr ein, und kurz darauf pfeift der Unparteiische ab.

Die Überraschung ist perfekt! Aussenseiter Bukarest schlägt das höher eingestufte, aber eben doch noch stärker angeschlagene St. Petersburg 2:1, die Fans spenden frenetischen Applaus. Wir hoffen, Sie hatten so viel Spass an diesem Spiel wie wir, und wünschen einen schönen Tag.

Mehr EM gefällig? Hier geht’s zum Dossier.

 

 

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