Ewigi Liebi Wollishofen

In Wollishofen wird der Busverkehr mit dem Fahrplanwechsel vom Montag auf den neusten Stand gebracht. Das war für uns der passende Moment, einen ehemaligen Ureinwohner zu bitten, seiner alten Heimat eine richtig «fette» Hommage zu schreiben.

«Wollishofen – ein ganz normales Quartier». So lautete der Titel eines Artikels, der vor rund 30 Jahren im «Züri 2 Anzeiger» erschienen war. Diese Zeitung war mehr Blättchen als Blatt, will sagen sie berichtete eher übers Morgental, das inoffizielle Zentrum des Quartiers, als übers Morgenland, den offiziellen Krisenherd in Vorderasien.

Dennoch war der besagte Artikel nicht ganz unerheblich, zumindest für mich: Es war nämlich meine allererste journalistische Arbeit. Sie war zustande gekommen, weil mich der «Züri 2»-Chefredaktor (der, was er damals natürlich noch nicht wusste, Jahrzehnte später zum Chefredaktor der «SonntagsZeitung» ernannt werden sollte) an der lokalen Jungbürgerfeier aufforderte, statt bloss flotte Sprüche zu klopfen, auch mal eine flotte Tat zu vollbringen – zum Beispiel in seiner bescheiden wichtigen Quartierzeitung ein persönlich gefärbtes Porträt über Wollishofen zu verfassen.

Sein verbaler Giftpfeil bohrte sich mitten in meinen jugendlichen Stolz, und so setzte ich mich am nächsten Nachmittag an Mutters IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine und legte los. Der Papierkorb erinnerte am Abend an denjenigen eines Autors mit akutem Schreibstau – er war nämlich randvoll mit wütend zerknülltem A4-Papier. Ich hatte gemerkt, dass selbst lokalster Lokaljournalismus eine anspruchsvollere Disziplin war als ein Schulaufsatz. Doch ich gab nicht auf, und etwa drei Wochen später hatte ich den Beitrag tatsächlich geschafft. Zu meiner Verblüffung (und ja, auch Freude) fand es besagter Chefredaktor sogar publikationstauglich und druckte es ab.

Mehr Scham als Stolz

Wenn ich allerdings heute lese, was ich damals textete, überkommt mich mehr Scham als Stolz. Dass dies passierte, war die «Schuld» meiner noch immer in Wollishofen hausenden Eltern, die mir den «Züri 2»-Artikel unlängst bei Kaffee und Kuchen diebisch schmunzelnd auf den Tisch legten (Eltern, das muss wieder einmal deutsch und deutlich gesagt sein, bewahren einfach viel zu viele «Dinge» ihrer einstigen Sprösslinge auf!). Das in der Jugend Ge- oder eher Verschriebene ist eine ausgewogene und entsprechend langweilige Mischung aus Altbekanntem, Jugendsünden und Klischees: «Wollishofen gilt als Altersheim der Stadt Zürich», steht da schwarz auf weiss. Oder: «Beim Kiosk Traber hat unsere Widmerstrassen-Gang früher Fünfermocken gestohlen.» Oder: «Wir sind ein Dorf in der Stadt, hier wissen alle alles von allen.»

Und doch wirkt es auch ein wenig wie eine Liebeserklärung. Keine leidenschaftliche zwar; als cool-sein-wollender Teenager war ich zu wortgewaltiger Sinnlichkeit offensichtlich (noch) nicht fähig. Aber das Stimmungsbild macht gleichwohl klar, dass dieser pittoreske Fleck, eingebettet zwischen Stadt und Land, begrenzt durch den See und die Sihl, mein Werden (oder hochgestochener: meine Sozialisation) stark geprägt hat. Logo, immerhin hatte ich hier den ersten Kuss verschenkt (es war glaub beim «Füchslibrunnen», an Heidi, Vreni oder Sandy), auf dem Sportplatz Sonnau mein erstes Tor erzielt, im Schulhaus Neubühl den ersten «Sechser» geschrieben und am Ostersonntag 1973 meinen ersten Trottinettunfall gebaut (15 Minuten nachdem ich es geschenkt bekommen hatte).

Der trunkene Geist von Glauser

Tempi passati. Inzwischen wohne ich in Wiedikon. Das Quartier ist ganz okay. Ich kenne die richtigen Bars und die wichtigen Beizen, den Metzger und den Velomech, weiss, wo man Pakete abholt, wo man einen Pokal bekäme, wenn man einen bräuchte, und wo der nächste Bancomat steht. Das ist gut und praktisch. Aber mehr ist es nicht.

Wenn ich «mehr» möchte, gehe ich nach wie vor nach Wollishofen. Denn «mehr», das ist ein gefühltes Glück beim Spazieren durch den Entlisbergwald. Das ist die innere wie äussere Ruhe beim Besuch des Manegg-Friedhofs (wobei ich noch immer hoffe, dass mich der trunkene Geist des hier begrabenen Schriftstellers Friedrich Glauser eines Tages zum Jahrhundertkrimi inspirieren wird). Das ist die infantile Freude, die mich überkommt, wenn ich im Frühling, Sommer oder Herbst bei der Saffa-Insel in den See hüpfe, springe oder steige (der, wie ich mal gelesen habe, fast einen Drittel der Gesamtfläche des Quartiers ausmacht). Das ist die seltsame Überzeugung, das hier im Quartier jedes Steak und jede Hörnlipfanne und jeder Coupe Dänemark besser mundet als anderswo in der Stadt – dabei, das sei ausdrücklich festgehalten, ist längst nicht jedes Wollishofer Wirtshaus ein Gourmetlokal. Doch dazu später mehr.

Im Manegg-Friedhof findet sich die letzte Ruhestätte des Schriftstellers Friedrich Glauser.

Klar könnten Spötter nun einwerfen, das sei ein klassischer und wohl pathologischer Fall von nostalgisch verklärter Heimatliebe. Ich würde empört rufen: «Nie und nimmer!» Und die Spötter würden sagen: «Beweis es!» So würde ein Wort das andere ergeben, und am Ende hätten wir ein Armdrücken ohne Sieger, um es mit einem mittelmässigen Sprachbild zu formulieren.

Und plötzlich war da Zeitgeist

Obwohl ich weiss, dass viele Menschen, die ich kenne, nur noch bei unumgänglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen (Elternbesuch, Weihnachtsfeier, Klassentreffen etc.) an den Ort zurückkehren, an dem sie aufgewachsen sind, wäre Nostalgie in meinem Fall tatsächlich die falsche Fährte. Denn das heutige Wollishofen ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr das Quartier meiner Jugendzeit.

Ein Exempel hierfür ist die reformierte Kirche (die mit dem goldenen Gockel auf dem Turm) auf der Egg: Rein geografisch wurde sie zwar im Dorf belassen, um ein bekanntes Sprichwort zu zitieren – genutzt wurde sie seit 2014 mangels «Kundschaft» aber nicht mehr als Gotteshaus, sondern als vorab kultureller Veranstaltungsort des spirituellen (böse Zungen sagen: leicht esoterischen) Vereins «KunstKlangKirche». Durch diese im November 2018 beendete Projekt zeigte das jahrzehntelang als bünzlig, konservativ und verschlossen gescholtene Quartier erstmals ein neues, durchaus «zeitgeistiges» Gesicht.

Fast noch plakativer ist Wollishofens Ankunft im «Hier und Jetzt» am baulichen Wandel zu erkennen: So wurde die einstige Waschanstalt neben der Badi Wollishofen schon vor Jahren zu attraktiven Lofts umfunktioniert, ähnliches geschah mit einer alten Sägerei im oberen Quartierbereich. Zudem haben Genossenschaften ihre veralteten Reihenhäuser durch modernen und familienfreundlichen Wohnraum ersetzt – mit der wunderbaren Folge, dass in den vormals verschnarchten Hinterhöfen nun quickfidele Kids (ja, auch solche von Expats) herumtoben.

Ja, und dann hätten wir natürlich noch Greencity. Rund 80 Jahre nach der ersten architektonischen Pioniertat in Wollishofen – ich meine die 1932 errichtete Werkbundsiedlung Neubühl, die als Prototyp des «Neuen Bauens» in der Schweiz gilt, und die vom «Dream-Team» Häfeli-Moser-Steiger mitentworfen wurde – ist 2015 auf dem Sihlpapierfabrik-Areal unterhalb der Manegg ein neuer Meilenstein entstanden. Das «Grün» im Namen des Arbeits- und Wohn-Komplexes (vernünftige Shopping-Zone inklusive) ist nämlich Programm: Einerseits ist dieser neuste Teil des Quartiers von der Natur geradezu umzingelt (und doch nur den «Katzensprung» von gerade mal vier S-Bahn-Stationen vom HB entfernt), andererseits steht er voll und ganz im Zeichen der «2000-Watt-Gesellschaft» – sprich hier wird konsequent auf ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit gesetzt. Anders gesagt: Wer in Zürich künftig im grossen Stile bauen will, wird nicht umhin kommen, sein Vorhaben an Pionier-Projekt zu messen.

Flaneure und Dandy statt Klassenkämpfer

Verrückt, aber «mein» ganz gewöhnliches Wollishofen spielt seit ein paar Lenzen tatsächlich eine Art Vorreiterrolle. Und wenn man ganz genau hinschaut, manifestiert sich dieses neue Selbstverständnis, diese neue Ära, auch an kleineren sozialen «Zutaten» – beispielsweise an der wortwörtlich verschärften Kochkunst von Ismail Jafaar. Der Mann, der im Feinkostladen «Chäs & Brot» im Morgental arbeitet, hat es fertiggebracht, dass unzählige Quartierbewohner mit einer Gewohnheit brachen – holten sie sich am Freitag zum Mittagessen traditionell (und irgendwie langweilig) eine Früchte- oder Käsewähe, lechzen sie nun nach Ismails köstlichen Suppen und sonstigen Gourmet-Kreationen – die längst derart populär sind, dass man ohne Vorbestellung Gefahr läuft, doch wieder auf die Wähe zurückgreifen zu müssen.

Ein anderes Beispiel ist die Rote Fabrik. Klar, backsteinrot ist sie noch immer. Doch aus dem umstrittenen alternativen Kulturzentrum, in dem einst auch die Avantgarde-Pop-Band Yello ein Studio betrieb, ist ein kollektiver Wohlfühltreff geworden. Charmanter gesagt: Zu den Film-, Sound- und Kunstfreaks, die im «Ziegel oh Lac» (das ist die Beiz) noch immer Visionen oder wenigstens Ideen von Visionen entwerfen, gesellen sich längst auch Quartierfamilien, Flaneure, Dandys oder Stadtoriginale, kurz: man lebt nicht mehr ein klassenkämpferisches Gegen-, sondern ein harmonisches Miteinander. Und, auch das ein Unikum: Die tollsten Konzerte in der Roten Fabrik finden heutzutage nicht mehr am Wochenende, sondern im Rahmen der «Zischtigmusig» statt.

Dritte Kostprobe – der Begriff passt – ist der «Wollishofer Märt», der seit einigen Jahren im Juni und im September durchgeführt wird. Das lokale und regionale Kleingewerbe bietet hier Delikatessen und Waren feil; Fahnenflüchtige treffen auf Ureinwohner, Rückkehrer auf Weltenbummler (die in der Jugendherberge Station machen). Beim letzten Besuch begegnete ich lustigerweise einem ehemaligen Fussballkollegen, der als Teenager stets dem letzten Trend nachgerannt war, der stets den neusten Italo-Disco-Sound hatte, und der als erster einen schnittigen Schlitten (konkret: einen Alfa Spider) fuhr – und der nun, leicht rundlich und kahl geworden, sichtlich zufrieden Raclette verkaufte. Kein Zweifel: Der Multikulti-Markt mit Blasmusik und Festbänken offenbart, dass im trendiger und urbaner gewordenen Peripheriequartier noch immer eine grosse Portion Dorfcharakter steckt. Wer für diese Behauptung einen weiteren Beleg benötigt, besuche das Bauerngut «Schipferhof» unweit des Ortsmuseums – dessen prächtige Gemüseauslage hätte im Fall einen «Bio»-Oscar verdient, wenn er denn existieren würde.

Keine Action? Quatsch!

So, und damit sind wir nach einem langen Tour d’Horizon endlich wieder beim Essen angelangt. Ich habe vorhin beiläufig erwähnt, dass nicht jede Wollishofer Gaststätte den wahren Feinschmecker glücklich machen wird. Bei den folgenden drei Lokalen aber verspreche ich hoch und heilig Hochgenuss – insbesondere, wenn man meine Ratschläge befolgt! Im altehrwürdigen Muggenbühl empfehle ich das Cordon-Bleu (es wurde 2009 im Züritipp zum «Cordon-Bleu des Jahres» erkoren). Im berühmten Bürgli, das über einen der lauschigsten Sommergarten der Stadt verfügt, darf ich die Spezialität des Hauses ans Herz legen: Es handelt sich um das Entrecôte Café de Paris im Pfännli. Und im Fischer’s Fritz, dem schmucken Camping-Platz-Restaurant von Tausendsassa Michel Péclard, würde ich die Forelle Blau oder die Felchen in der Folie bestellen.

Zum Schluss des aktuellen Teils muss ich jetzt noch rasch (ja, wirklich rasch) den ab und zu gehörten Vorwurf entkräften, Wollishofen sei ja hübsch und so, aber da sei einfach nie was richtig Action-mässiges oder kulturell Krasses los und so. Ich sage nur: Quatsch! Was war bis vor ein paar Jahren mit Freestyle.ch, hä? Und was mit dem noch immer grandiosen Elektronikfestival «Lethargy»? Oder mit dem Theater Spektakel, dem vielleicht kecksten und sinnlichsten Spätsommeranlass des ganzen Schweizerlandes?

Gut, hätten wir das auch geklärt. Was noch fehlt, ist die seriöse Zukunftsprognose. Obschon das Quartier die optimale Kombination von Wohnqualität und Outdoormöglichkeiten offeriert – wo sonst in Zürich ist man in 10 Minuten am See, in 10 Minuten im Wald, in 10 Minuten auf dem Tennisplatz und in 10 Minuten auf dem Mountainbike-Trail? – glaube ich nicht, dass Wollishofen jemals im Stil des Seefelds oder des Industriequartiers gentrifiziert und yuppisiert wird. Eher dürfte der «organisch» gewachsene Spannungsbogen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Ländlichkeit und Urbanität, nochmals deutlich spannender werden – umso mehr, als man auch mit dem Fahrplanwechsel vom kommenden Montag auch verkehrsmässig auf den neusten (will sagen: besten) Stand gebracht wird – die Busse 70, 184 und 185, die bislang alle die Endstation «Morgental» hatten, fahren fortan bis zum Bahnhof Wollishofen. Dadurch kommen alle, die auf eine S-Bahn wollen (und deshalb im «Morgental» ins Tram 7 umsteigen mussten) neu in den Komfort, in den genannten Bussen bis zum Bahnhof sitzen zu bleiben.

Was ich mit all diesen vielen Worten eigentlich sagen wollte: Käme heute nochmals die Aufforderung, ein Orts-Porträt zu verfassen, würde ich bestimmt einen anderen Titel setzen als damals. Vielleicht den: «Wollishofen – ein ganz besonderes Quartier».

Die verlängerten Linien 70, 184 und 185

Ab Fahrplanwechsel führen die Buslinien 70, 184 und 185 direkt zum Bahnhof Wollishofen. Alle Informationen dazu finden Sie hier.

 

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