Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Autor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Der Zielweg – der weder das Ziel war noch am Weg lag.
Freitag, 23. Juni, 11.57 Uhr. Bushaltestelle Zielweg.
Da war doch kürzlich dieser Artikel in der Zeitung, der mit «Das Wundertraining» überschrieben war, und in dem von dieser modernen «HIIT»-Methode berichtet wurde – die Abkürzung steht für «High Intensive Interval Training» –, mit der man, richtig angewendet, trotz massiv weniger Aufwand genauso gute Fitness-Werte erzielen kann, wie wenn man wöchentlich wie ein Verrückter mehrere Stunden Ausdauer büffelt.
Als sportliche Minimalisten-Seele musste mich das einfach interessieren. Und als da auch noch konkret geschrieben stand, dass es grundsätzlich genüge, wenn man bloss einen Teil des Uetlibergs mit ordentlich Tempo hinauf marschiere, war ich bereits Feuerchen und Flämmchen für diese Methode. Und zog letzten Freitag kurz nach 11 Uhr fast etwas übermotiviert die Laufschuhe und das Tenü «bequem» an, packte einen Apfel und einen Eistee in den «Fjallraven» (eigentlich ist es völlig egal, in was für einen Rucksack ich die Sachen packte, doch um zu zeigen, dass wir bei den VBZ durchaus ein gewisses Modetrendbewusstsein haben – was ja oft vergessen geht, oder womöglich auch unterbewusst ignoriert wird, da der gemeine Bürger vielleicht meint, «Verkehr und Fashion, no way du, das ist ja fast wie Härdöpfel und Sorbet, oder Teufel und Weihwasser, das geht gaaaar nicht zusammen» – musste der «Fjallraven» an dieser Stelle unbedingt rasch erwähnt sein) und machte mich auf zu meiner Uetliberg-Standardroute, die sanft ansteigend den SZU-Geleisen entlang führt.
Mein Kumpel schafft’s in 43 Minuten on top!
Als ich dann mit ganz passabler Schrittfrequenz die ersten paar 100 Meter zurückgelegt hatte, mein Puls aber immer noch vor sich hin döste, als ob ich irgendwo an der Algarve in einem Liegestuhl rumhängen würde, wurde mir klar, dass das «HIIT»-Training auf diese Weise wohl keine Erfolgsgeschichte wird. Nein, ich brauchte einen anderen, massiv steileren Weg, der mir nur schon beim Anblick die Lust aufs Kampf-Walken verderben würde.
Kurzes Intermezzo: Der irgendwie kranke Begriff «Kampf-Walken» stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem alten Kumpel. Der vor ein paar Jahren seine angeblich ungesunde DJ-Karriere unversehens an den Nagel gehängt und stattdessen vom einen auf den anderen Tag radikal auf die Karte Sport gesetzt hatte – da aber einige seiner Gelenke bereits ein wenig lottrig geworden waren, durfte er auf Befehl des Arztes keinesfalls joggen, doch Walking auf Naturboden, das hatte ihm der Halbgott in Weiss zugebilligt. Und weil er es inzwischen vom Triemlispital bis zum Giusep Frys Turm in 43 Minuten schaffte – das ist im Fall wirklich dammi schnell – nennt er seine sportive Freizeitbeschäftigung eben Kampf-Walken. Intermezzo Ende.
Ich ging und grüsste, grüsste und ging, schaute nach links, nach rechts, zum Berg hinauf, zur Stadt hinunter, doch war nicht mal die Spur eines steilen Pfades zu sehen.
Ich bog dann bei nächster Gelegenheit nach links ab, landete auf einer topographisch eher anspruchslosen Strecke (die oberhalb des Atlantis vorbeiführte, den Schlittelweg querend), im Wissen, dass da vorn irgendwo dieser unbarmherzig steile Aufstieg wartete, von dem ich schon oft gehört hatte, und der gar an einer alten Burgruine vorbeiführen würde. Ich ging und grüsste, grüsste und ging (es gibt im Fall extra Grussregeln für den Uetliberg, auch das war mal in einer Zürcher Zeitung zu lesen, ist glaub eher Nonsense, aber ich werde bei anderer Gelegenheit mal darauf eingehen, hier und heute fehlt leider die Zeit), schaute nach links, nach rechts, zum Berg hinauf, zur Stadt hinunter, doch war nicht mal die Spur eines steilen Pfades zu sehen.
Das Türchen wurde zur Tür
Im Gegenteil: der Wald lichtete sich mehr und mehr, und plötzlich stand ich hinter einem herzigen Haus mit Hasenstall, ein paar Schritte weiter stand dann auch noch ein ungleich grösserer Stall, er beherbergte Pferde, dazu servierte die Natur gratis und franko eine grosse Portion Lauschigkeit mit blühenden Blumen (wie’s scheint, kommt diese Kolumne nicht mehr ohne Blumen aus, doch immerhin waren es diesmal keine gemeuchelten Butterblumen, wie im letzten Beitrag, es waren … ääh, kleine, violette, hmm … echt keine Ahnung, sorry) und brummenden Bienen (und gleich nochmals sorry, immer dieser Hang zur Alliteration, das Problem nimmt langsam pathologische Züge an, jedenfalls: es waren natürlich summende Bienen) … und dann, nochmals ein paar Schritte weiter: EINE KONFUZION! (Ja, Konfuzion, das ist kein Tippfehler. Wobei es natürlich schon um eine Konfusion geht, allerdings … ach, lesen Sie einfach weiter)
Ich muss ziemlich aufpassen, was ich jetzt schreibe, denn diese Konfuzion hatte mit einem stadtbekannten, blau-weissen Schild zu tun, und dieses Schild steht an jeder Bus- und Tramstation, kurz: es ist, etwas salopp formuliert, das Aushängeschild meines Arbeitgebers. Jedenfalls: Auf besagtem Schild stand der Name der einen Endhaltestelle der Buslinie 73, und dieser Name war: Zielweg.
Klar, kann man machen. Ich denke aber nicht, dass das einfach so «gemacht» wurde. Viel eher glaube ich, dass dieser Name das radikale Abbild eines komplexen, stark persönlich gefärbten Prozesses ist, den ein VBZ-Mitarbeiter durchmachte. Konkret stelle ich mir vor, wie dieser Mitarbeiter als Teenager mit seinen Eltern vor 45 Jahren eine China-Reise machen durfte, und wie sich während dieser Reise in seiner Seele ein spirituelles Türchen öffnete. Dieses Türchen wurde mit fortschreitendem Alter gross und grösser, und eines bedeutenden Tages war’s eine richtige Tür, und der VBZ-Mitarbeiter ging, metaphorisch gesprochen, hindurch, und stiess erst auf Mike Shiva und Uriella, was eine nicht ganz so leise Enttäuschung war. Doch er liess sich nicht beirren, ging weiter, und dann traf er auf Konfuzius, dessen Weisheiten ihn im Innersten berührten. Mehr noch, er verliebte sich geradezu in Sprüche wie «Was du mir sagst, das vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich»; «Über das Ziel hinaus schiessen ist ebenso schlimm, wie nicht ans Ziel kommen» oder «Wissen, was man weiss, und wissen, was man nicht weiss, ist wahres Wissen», und für ihn war klar: Wer mit so wenigen Worten so viel Grossartiges sagen konnte, der war nichts Geringeres als ein Genie.
Das verknappte Geschenk
Und dann kam ein weiterer bedeutender Tag im Leben dieses Mannes. Der Tag nämlich, an dem er 25 Jahre bei den Zürcher Verkehrsbetrieben angestellt war. Wozu ihm seine Vorgesetzten, die ihn sehr schätzten, ein spezielles Geschenk machen wollten – und ihm deshalb offerierten, er dürfe einer Haltestelle einen Namen geben. Es sei zwar eine kurze Linie, Bus 73, bloss fünf Stationen, aber hey, es war der Name der Endhaltestelle! Dem altgedienten VBZler kullerten Tränen der Rührung über die Wangen, dann ging er heim, nahm das Buch mit Konfuzius’ Weisheiten aus dem Regal, blättere mit geschlossenen Augen die Seiten durch, schlug es irgendwo auf, tippte, noch immer mit geschlossenen Augen, auf die eine Stelle und entschied: Dieser Spruch würde der Haltestelle, «seiner» Haltestelle, den Namen geben. Er lautete: «Der Weg ist das Ziel».
Am nächsten Tag ging er zu seinem Chef und beschied ihm die gewünschte Lösung. Der druckste ein wenig herum, murmelte etwas, das klang wie «lang», dachte nach, und sagte schliesslich: «Machen wir doch einfach kurz und bündig Zielweg!» Der VBZ-Mitarbeiter nickte leicht geknickt, dachte aber das, was Spruch-affine Menschen in solch heiklen Momenten immer denken: «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.»
Genauso stelle ich mir die Entstehung des Zielwegs vor, jawohl. Und deshalb war das dann auch keine Konfusion, die ich letzten Freitag kurz vor Mittag gewärtigen musste, nein, es war eine sogenannte Konfuzion – übrigens eine Phänomen, das immer häufiger auftaucht, da die Weisheiten des alten Chinesen immer öfters abgekürzt oder verknappt werden. Angeblich geschieht das aus sprachökonomischen Gründen, man könnte es wohl auch weniger hochgestochen Bequemlichkeit nennen …
Sei’s drum. Jedenfalls, das möchte ich hier nicht verschweigen, fand ich dann unweit der (Inne-)Haltestelle, also oberhalb des zuvor erwähnten Pferdestalls, tatsächlich jenen steilen Anstieg , den ich die ganze Zeit gesucht habe. Und stimmt, da haben Sie natürlich völlig recht: Rein faktisch war das nichts Anderes als mein Zielweg!