Ein bewegender Ort

Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Diesmal: Rund ums Helmhaus.

Samstag, 23. November, 12.25 Uhr, Tramhaltestelle Helmhaus

Ist sie noch da?

Die Frage beschäftigt während der ganzen Tramfahrt. Unterbrochen nur von den wieder aufkommenden Gedanken an dieses tragische Ereignis, das sich vor bald zwei Monaten in einer perfiden Kurve zwischen Schmalzgrueb und Küsnacht ereignete.

Da nämlich stürzte am regnerischen 26. September im WM-Strassenrennen der U19-Juniorinnen die Zürcherin Muriel Furrer so schwer, dass sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Danach lag sie für unbestimmte Zeit unbemerkt an einer unübersichtlichen Stelle im Wald neben der Strecke, die Bergung kam spät, die Notoperation konnte ihr nicht mehr helfen – die fidele und talentierte Sportlerin, die am 1. Juli ihren 18. Geburtstag gefeiert und ebenfalls im Sommer bei Swiss Life eine KV-Lehre begonnen hatte, verstarb tags darauf im Spital, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

Vor der Wasserkirche, direkt neben dem Zwingli-Statue, wurde für Muriel Furrer eine Gedenk- und Trauerstätte errichtet. Als ich das erste Mal dastand – am 29. September, die Profis fuhren an diesem Sonntag um den WM-Titel, die Strecke führte auch durch die City und dabei wenige Meter an diesem Erinnerungsort vorbei – strahlte die Sonne.

Viele Blumen waren um den Baum drapiert, zahllose Grabkerzen aufgereiht, auch ein Bidon wurde dazugestellt, man hatte Schweizer Flaggen und Renntrikots um den Stamm gebunden. Und mitten in dieser Buntheit ein gerahmtes Schwarzweiss-Foto, das stumm von der sichtbaren Lebensfreude dieses jungen Menschen erzählte… und nun war dieses fast schelmische Lächeln im Gesicht für immer erloschen. Unfassbar.

Die Gedenkstätte der verunglückten Radsportlerin Muriel Furrer.

Mein Radsportwissen ist bedenklich dünn

Obwohl ich mich seit klein an für Sport interessierte – meine Grosseltern hatten in ihrem Restaurant in Wollishofen, wo ich aufwuchs, Dutzende Magazine und Zeitungen abonniert, und als ich im Primarschulalter endlich in der Lage war, auch die Buchstaben zu dekodieren, welche die Fotografien umzingelten, waren es ausschliesslich Medien wie die Fachzeitung «Sport» (existiert nicht mehr), das Wochenmagazin «Tip» (existiert nicht mehr) oder die Sportseiten im «Tages-Anzeiger» (existieren noch, aber der Umfang ist dürftig geworden), die mich in den Bann schlugen; übrigens eine Vorliebe, die bis heute existiert – war und ist mein Radsporthintergrundwissen im Vergleich zu demjenigen im Fussball, im Eishockey, im Schwing- oder im Schwimmsport oder selbst im Rugby ziemlich mittelmässig (uff, das war jetzt aber ein sehr-sehr-sehr langer Schachtelsatz, ist sonst gar nicht meine Art, frau/man möge mir verzeihen).

Dies war wahrscheinlich mit ein Grund, dass ich vor Beginn der nach 1923, 1929 und 1946 bereits zum vierten Mal in Zürich durchgeführten Strassenrad-Weltmeisterschaft  zwar durchaus wusste, wer die Top-Favoriten im Elite-Rennen der Männer waren – aber keine jener Frauen beim Namen nennen konnte, die am ehesten um Gold, Silber oder Bronze kämpfen würden (genau, shame on me, und zwar richtig!)

Es war also auch nicht erstaunlich, dass ich bis zu diesem tragischen Ereignis noch nie von Muriel Furrer gehört hatte … gleichwohl stand ich dann an diesem Septembersonntag an dieser kontemplativen kleinen Gedenkstätte – und war tief bewegt. So sehr, dass ich die Menschenmassen, die an allen Ecken und Enden der Innenstadt aufgeregt und vorfreudig dem Eintreffen der Radstars entgegenfieberten, komplett ausblendete und meinen Tränen freien Lauf liess. 

In der Welt ist viel Unheilvolles passiert

Seither ist auch in der Welt viel Unheilvolles passiert. In Deutschland ist die Ampel-Koalition auseinandergebrochen – einen Tag, nachdem in den USA ein Ex-Präsident und inzwischen verurteilter Straftäter vier Jahre nach seiner Abwahl erneut zum Staatschef gewählt wurde. Und die spanische Provinz Valencia erlebte eine Flutkatastrophe biblischen Ausmasses.

Auch in der Schweiz bedroht die Natur den Menschen – deshalb musste das Bündner Dorf Brienz aufgrund von Bergsturzgefahr zum zweiten Mal evakuiert werden, es steht gar eine Umsiedlung im Raum. Und nach dem «Tip» – siehe oben – verschwindet jetzt auch der «Züritipp»: Die Tamedia hat entschieden, das Ausgeh-, Stadt- und Kulturmagazin, das seit dem 3. September 1982 einmal pro Woche dem «Tages-Anzeiger» beilag, nach 42 Jahren per Ende Dezember einzustellen.

Ein bisschen Licht ins viele Dunkel – bildlich, nicht wörtlich gemeint – brachte dann am 21. November die wie immer feierliche und von reichlich Glühwein begleitete Erstillumination der bei Klein und Gross beliebten Weihnachtsbeleuchtung «Lucy» an der Bahnhofstrasse … und weil Frau Holle an diesem Donnerstagabend auch noch kräftig ihre Decken schüttelte und im Zürcher Winter 2024 der reichliche erste Schnee bis ins Flachland niederging, bekam dieser Abend noch einen besonderen zusätzlichen Zauber.

Zwei Tage später steige ich nach dem Mittag beim Helmhaus aus. Es ist seit dem Bestehen dieser Kolumne das erste Mal, dass ich ganz bewusst eine Haltestelle zur «Innehaltestelle» mache. Bislang liess ich mich jeweils per ÖV durch die Stadt treiben, verliess da oder dort den Bus oder das Tram und gab mich spontan dem hin, was auf mich wartete… oder auch nicht.

Der Schnee ist ausgedünnt, aber noch da. Ich gehe ein paar Schritte, dann eine Art Erleichterung: Sie ist noch da!

Und sie sieht fast so aus wie damals im September. Ein paar Grabkerzen sind umgekippt, die Blumen verwelkt … bis auf eine offenbar kürzlich hingelegte, pinkfarbene Rose, auf deren Wickelpapier steht: «miss you». In den Online-Zeitungen hatte ich von der Abdankung gelesen, von den berührenden Briefen der Mutter, des Vaters und des Bruders an ihre Tochter und kleine Schwester, die da am 8. November in der Kirche Uster vorgetragen worden sind. In Uster hätte ich als Fremder nichts verloren gehabt, das war das letzte Geleit der Familie, der Freunde, der Sportskolleginnen und Kollegen. Aber hier, bei der Wasserkirche, geht ein nochmaliges kurzes Innehalten in Ordnung.

Gewisse Verbote sollten verboten werden

Wieso ich das tue? Vielleicht, weil ich beim ersten Besuch der Trauerstätte realisierte, wie sich mein Leben (zumindest gefühlt) in den letzten Jahren immer noch mehr beschleunigt hatte. Wie ich es zugelassen hatte, dass die bedachten, ruhigen, und stillen Momente mehr und mehr an den Rand gedrängt wurden. Hey, schliesslich gabs und gibts ja immer noch irgendwas zu tun! Und das meiste davon ist (oder eher scheint!) spannend, gar spektakulär, oder wenigstens wichtig! Und sowieso: «Was Du heute – oder noch besser: sofort!! – kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!»

Auch deshalb hatte ich in den letzten Jahren die eine oder andere Begegnung mit einem mir nahen und wichtigen Menschen ausgelassen, der nun nicht mehr da ist… womöglich war die Rückkehr an diesen bewegenden Ort also vor allem ein Appell an mich selbst – ein Appell gegen das Verpassen und ein Appell, bedachte, ruhige und stille Momente wieder mehr ins Zentrum meines noch verbleibenden Lebens zu rücken.

Nach etwa zehn Minuten verlasse ich die Gedenkstätte, ich will mir noch die Ausstellung im Helmhaus ansehen. Auf dem Weg dahin sehe ich an einer Säule der offenen Eingangshalle plötzlich ein Verbotsschild, das ich da noch nie gesehen habe – es verbietet Strassenmusik. In dem Moment erinnere ich mich, wie die Frau, die damals im September in dieser Halle sass und leidlich schön Akkordeon spielte, wofür ich ihr fünf Franken gab, in gebrochenem Deutsch sagte – wahrscheinlich hatte sie meine feuchten Augen gesehen – sie spiele auch für die junge Velofahrerin, die verstorben sei. Gewisse Verbote sollten verboten werden.

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