Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Am Helvetiaplatz, wo sich mitten am Tag ein kleiner Maskenball beobachten lässt.
Donnerstag, 16. Juli, 11.02 Uhr. Bushaltestelle «Helvetiaplatz»
«Nein, wir sind keine Schafe!»
Dies, werte Leserinnen und Leser, war die Antwort des Zürcher Psychoanalytikers und Satirikers Peter Schneider auf folgende, wohl irgendwie lustig gemeinte Frage eines «Republik»-Journalisten: «Wie ändert der Mensch seine Gewohnheiten? Nach Einführung der Maskenpflicht trugen plötzlich alle eine. Sind wir Schafe?»
Es kommt mir in den Sinn, als ich unlängst vor dem Schaufenster des bekannten Musik- und Kleidergeschäfts Jamarico an der Langstrasse stehe und die dort ausgehängten Rockbandshirts betrachte.
Vertreten sind vor allem bekanntere Formationen wie Motörhead, Black Sabbath, Joy Divison, Ramones, Nirvana (das mit dem Halloween-Gesicht, ich hatte es auch mal, bis es eines unschönen Tages aus dem Trockenraum der Waschküche gestohlen wurde, wie jüngst übrigens auch eine Wanderhose von Fjällräven – diese indes wurde retourniert, nachdem ich einen Zettel an die Türe gehängt hatte … ich hätte das beim Shirt-Verlust auch tun sollen, doch ich hatte damals nicht meine allerbeste Lebensphase, es ging mir schlicht durch die Lappen, also die Hirnlappen), Sisters of Mercy oder Dinosaur Jr.
Gerade als ich mich abwenden will, erblicke ich unten links noch das Leibchen der australischen Formation Tame Impala (Übersetzt: zahme Schwarzfersenantilope). Das Sujet gefällt mir, es wirkt wie eine abstrahierte, aber durchaus psychedelische (was zum Sound passt), grün-gelbe Sonne. Als ich näher ran gehe – wie die SBB, die Mandelgipfel im Sprüngli oder die Grasshoppers sind auch meine Augen nicht mehr, was sie mal waren –, sehe ich im Zentrum dieser Sonne einen Kreis, und darin ein paar Cumuli, also Schäfchenwolken … und der Schritt von der Schäfchenwolke zur eingangs erwähnten Frage mit dem Schaf … Sie sehen, was ich meine.
Schneiders ganze Antwort
Und damit nochmals zurück zu Peter Schneiders Antwort. Die – wer ihn vom Radio oder seiner «Tages-Anzeiger»-Kolumne her kennt, wird sich nicht wundern – viel länger ausfiel. Nach dem saloppen Auftakt mit dem Schaf liess er dann noch all diese ziemlich gescheiten Sätze folgen:
«Aber wenn es darum geht, kollektiv neue Gewohnheiten zu etablieren, dann muss das eben auch gemeinschaftlich geschehen. Es hilft nichts, an die Eigenverantwortung zu appellieren und zu sagen, man soll individuell das Richtige tun. Es ist vor allem ihre Allgemeingültigkeit, die eine Regel vernünftig macht. Der Strassenverkehr bricht nicht zusammen, wenn jemand bei Rot über die Strasse läuft. Aber das Chaos bräche aus, wenn plötzlich Eigenverantwortung das einzige Regulationsprinzip wäre.»
Das habe ich da vor dem Schaufenster stehend ehrlicherweise natürlich nicht mehr alles präzis so im Kopf, ich haben es später nochmals nachgelesen. Aber egal. In erster Linie geht es darum, dass mich das Interview mit Schneider dazu bewogen hat, die nächste Innehaltestelle – also diese hier – dem Thema «Masken im ÖV» zu widmen (Quod erat demonstrandum). Zum einen war ich tatsächlich ein bisschen neugierig, wie sich das Geschehen in Tram und Bus seit dem 19. Mai verändert oder entwickelt hat, als Stadtrat Michael Baumer, Vorsteher der Industriellen Betriebe, und die VBZ-Spitze einen fast schon avantgardistischen ersten Schritt machten – und erst noch in die richtige Richtung, wie sich nun zeigt.
Zum anderen wollte ich einfach mit wachem Geiste schauen, was mir alles ein- und auffällt, wenn ich mich im öffentlichen Raum mal ganz bewusst mit dem Gesichtsschutz und seinen Erscheinungsformen konfrontiere – und wo geht das besser als rund um den Helvetiaplatz, wo die schillerndsten, aber auch die ulkigsten Figuren der Stadt unterwegs sind, Corona hin oder her.
Die Methode heisst ZEN
Nach dem optischen Genuss des Jamarico-Schaufensters (wo übrigens auch Puppen mit Masken zu sehen sind; deren Message ist indes so explizit, dass man sie auf unserer durch und durch anständigen Plattform nicht lesen möchte) werfe ich einen Blick hoch zum Rado-Würfel (der, Zufall oder nicht, auch ein ästhetischer Wurf ist) des benachbarten Uhrenfachgeschäft – 11.02 Uhr – und lege umgehend mit Untersuchungs-Aspekt eins los: Stichprobe der Masken-tragenden ÖV-Nutzer!
Ich lasse drei Busse ein- und wieder wegrollen, zähle maskierte und demaskierte Fahrgastgesichter, rechne das Resultat in Prozente um und komme auf die sowohl für Bund und Kanton wie auch für mich hocherfreuliche Zahl 89,5 Prozent (wie immer wenn ich rechne ohne Gewähr) – so viele Leute halten sich an die Pflicht, in Anbetracht der Bill-Gates-Phobiker, Verschwörungstheoretiker & Co., die sich ja laut den Medien ähnlich rasch vermehren wie Fruchtfliegen, ist das krass beruhigend.
Zufrieden gönne ich mir einen Schluck Eistee, dann wende ich mich dem intuitiveren Aspekt zwei zu: Zuschauen. Entspannen. Nachdenken. Kurz: ZEN.
Was auffällt: Die hellblaue Einwegmaske oder ihre qualitativ hochwertigere Schwester, die weisse FFP2-Maske, dominieren das Strassenbild. In der ersten Stunde, in der ich an der Haltestelle Helvetiaplatz ZEN mache, sehe ich grad mal sieben waschbare Stoffmasken – eine mit Blumenmuster, eine schwarze, mit aufgedruckten, weissen Zähnen, und fünf unifarbene, schwarz oder olive.
Wenn bei einer Modeschau 93 von 100 Models die identische Uniform tragen würden, wäre das etwa ähnlich aufregend. Naiv wie ich war, habe ich tatsächlich angenommen, dass gerade diese Zone der Stadt ein Laufsteg der Eitelkeit und der Originalität sein würde, dass hier sogar die Chance bestünde, Leute mit Hockeygoaliemasken, Gurkenmasken oder sogar Roger-Staub-Mützen zu sehen, die bei Banküberfällen gern zur Maskierung verwendet werden.
Die vielen Gesichter der neuen Realität scheinen normaler, als ich vermutet hätte. Ist der Kreis 4 schlicht weniger schräg, als wir ihn uns gerne machen? Liegt es daran, dass wir in den Sommerferien sind? Oder ist die Covid-19-Lage einfach derart ernst, dass es beim Schutz weder um chic noch witzig, sondern allein um Schutz geht? Wäre dies ein Multiple-Choice-Test, hätte ich wohl die letzte Antwort angekreuzt, allerdings nicht mit letzter Überzeugung.
Die maskierte Kunst
Es ist inzwischen kurz nach 12 Uhr. Trotz Hunger kann ich leider nicht essen gehen, weil ich mit einem Kollegen zum Lunch verabredet bin, der immer erst dann ein Restaurant betritt, wenn die Stosszeit vorbei ist – am Vormittag ist das in seiner Wahrnehmung ab 10 Uhr der Fall, am Mittag ab 13.15 Uhr, und am Abend ab 21 Uhr. Eineinviertelstunden. Das ist lang.
Zum Zeitvertrieb suche ich nach berühmten Menschen, welche die Maske sozusagen von Geburt bis zum Tode tragen. Ich weiss, Sie erwarten nun Namen wie «Batman», «Spider-Man» oder «Superman». Aber die werden Sie nicht bekommen, weil ich weder Bruce Wayne noch Clark Kent oder Peter Parker als «richtige» Menschen akzeptiere (ich weiss, es gibt nicht wenige richtigen Menschen, die das dezidiert anders sehen).
Viel Brauchbares kommt mir trotzdem nicht in den Sinn. Konkret sind es zwei Persönlichkeiten: Henry «Der Gentleman» Maske, frührer deutscher Box-Weltmeister und -Olympiasieger. Und Elon Musk (ausgesprochen: «Iiilon Mask»).
Da erst zehn Minuten vergangen sind, brauche ich einen weiteren Zeitvertreib. Und so prüfe ich, was mir in der Sparte «Kunst und Kultur» spontan zu Masken einfällt. Der Versuch ist deutlich ergiebiger, um wieviel genau in Prozenten ausgedrückt kann ich nicht sagen, das übersteigt meine Rechenkünste. Hier die Ausbeute.
- Der Song «Masqued Lover» der grossartigen finnischen Heimelektro-Band Op:L Bastards.
- Die (massiv weniger grossartige) schwedische Metal- und Rockband Masquerade.
- Die (echt stupide) deutsche Unterhaltungsshow «The Masked Singer», in der mehr oder weniger deutsche Prominente in doofen Ganzkörperkostümen auf eine Bühne stehen und in einem Wettbewerb gegeneinander singen.
- Die Roman- und Filmfigur Zorro, «Rächer der Armen», der stets mit schwarzer Maske und Umhang in Erscheinung tritt.
- «V wie Vendetta», die 1982 veröffentlichte, ebenso fesselnde wie unheimliche Graphic Novel von Alan Moore und David Lloyd, deren Verfilmung im Jahr 2005 dafür sorgte, dass die historische Guy-Fawkes-Maske in den Pop-Kultur-Kanon gelangte.
Es gibt Lebewesen, die werden produktiver, wenn sie unter Hunger (oder Nahrungsmangel) leiden. Ich gehöre definitiv nicht zu dieser Spezies. Weshalb meine Zeitvertriebe immer einfallsloser werden. Hier der dritte und letzte: Ich schreibe das Wort Maske von hinten – Eksam – und prüfe wie Smartphone, ob das irgendwo auf der Welt eine Bedeutung hat. Hat es tatsächlich! Auf Estnisch heisst das Examen, hier das Beispiel, dass der Translator angegeben hat:
Mul on tähtis eksam järgmisel nädalal ja mu raamatud varastati. =
Die Examen sind bald. Meine Bücher wurden gestohlen.
Zwei letzte Fragen
13.04 Uhr, in elf Minuten gibts Essen, endlich. Mit letzter Kraft zwinge ich mich zu letzten, wenn möglich philosophischen angehauchten Gedanken (sowas macht sich für das Ende immer gut), was ich zustande bringen, sind zwei Fragen, die ich Ihnen nun einfach mal so auf den weiteren Lebensweg gebe.
- Machen Masken Menschen grundsätzlich attraktiver oder unattraktiver?
- Ist eine Brille auch eine Maske?
Voilà. Sollte das Thema auch weiterhin hohe Wellen werfen (bei bei einer dritten oder vierten Covid-19-Welle bestimmt der Fall wäre), würde ich bei einer nächsten Innehaltestelle nochmals darauf zurückkommen. Bis dahin wünsche ich gute Fahrt.