Leben und Werk von James Joyce, einem der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, sind eng mit Zürich verknüpft. Dies untermalt nun auch eine neue Multimedia-Tour per Tram, welche die Besucher zu Joyces wichtigsten Zürcher Wirkungsstätten führt. Ein Erlebnisbericht.
«Can’t bring back time. Like holding water in your hand. », schrieb James Joyce in «Ulysses». Ein Irrtum, wie wir heute wissen, denn: Die Zeit des vielschichtigen Schriftstellers kann sehr wohl zurückgebracht werden, gewissermassen, und zwar mit einem Smartphone in der Hand.
Komplexität und Freiheit des Einfachen
Wie kein anderer lebte der weltberühmte Ire, der am liebsten bei einem Glas Fendant de Sion im Pub sass und die Gespräche anderer Gäste belauschte, die Verschmelzung der Kunst mit dem Alltäglichen. Er löste Grenzen auf und setzte sich über sie hinweg – auch im Umgang mit der Sprache. In seinem Werk «Ulysses» packt er einen Tag im Leben der Protagonisten Stephen Dedalus und Leopold Bloom – genauer gesagt den 16. Juni 1904 – auf tausend Seiten. Ein literarischer «Bewusstseinsstrom» aus sprunghaften Gedanken, endlosen Dialogen und Orientierungslosigkeit. Ungebändigten Wort- und Satzkreationen, die sich als Kunst neu formieren und über jegliche Grammatik erheben. A man of genius makes no mistakes. His errors are volitional and are the portals of discovery. Der «berühmteste, ungelesene Roman» ist schwere Kost. So schwer, dass seine Spuren markant und tief sind. Diese haben beispielsweise den dem Hauptprotagonisten gewidmeten «Bloomsday» hervorgebracht, welcher Dublin alljährlich in ein feuchtfröhliches Tollhaus verwandelt. Mehr noch als «Ulysses» gilt Joyces Roman «Finnegans Wake» als eins der kompliziertesten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts.
Stadttour wider das Zwinglianische
Etwas einfacher zugänglich und daher der perfekte Einstieg ins «Universum Joyce» ist jedoch die per Smartphone geführte Fussmarsch- und Tramtour «Yssel that the Limmat?» durch Zürich. Begleitet werden wir dabei heute von Clarissa Höhener, Mitbegründerin jenes Teams, das die Bux-App kreiert und entwickelt hat (mehr Infos siehe Box am Ende dieses Artikels).
Zum Beginn unserer Odyssee – oder, im Kontext des Buchs vielleicht passender – «Ulysee» – werden wir per GPS zum Bellevue gelotst, wobei wir uns in nichts von den übrigen Passanten unterscheiden: Wie sie, starren auch wir fieberhaft aufs Handy. Das Rondell wie auch das Eckgebäude, in dem das Café Felix untergekommen ist, präsentieren sich dank Augmented Reality-Überlagerungen als Backflash der 20er-Jahre. «Joyce ist so gewaltig, dass er unsterblich ist und selber durch die Tour führt», sagt Höhener schmunzelnd.
Also hören wir den Dichter, beziehungsweise die virtuell auferstandene Version seiner selbst, wie er mit typisch irischem Akzent und unübersetzbaren Wortschöpfungen sein Amüsement über den Namen «Sechseläuten» ausdrückt, der bei ihm offenbar erotische Assoziationen auslöst: «There’s the bell for Sexaloitez ringrang, the chimes of sex appealing Pinck ponck, that fall for seeks alicence Peingpeong!». Übrigens fand Joyce mit «Ulysses» zunächst keinen Verleger. Der heutige Klassiker gilt stellenweise nicht nur als blasphemisch, er wurde der Obszönitäten wegen auch unter Pornografieverdacht gestellt (jedenfalls bis anno 1933 ein amerikanischer Richter dem Buch die Absolution erteilte). Manche dachten gar, es handle sich um eine Art Code. In Wirklichkeit schöpfte Joyce ganz einfach nur seine künstlerische Freiheit voll aus: I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can and as wholly as I can.
Gewollte Duftnoten auf dem Weg zu den «Escargots»
Nachdem wir also mit dem 2er oder 4er an die Kreuzstrasse gefahren und dort wie von der App geheissen zur Nummer 19 gelaufen sind, stehen wir nun vor einem unscheinbaren Haus, in dem Joyce mit seiner Familie einst lebte. Nichts deutet auf den einstigen Bewohner hin (noch nicht mal eine Gedenktafel), ausser seine Begrüssung aus unserem Smartphone, «dear visitors, guests, Oberspaßmacher Vladimire Pokethankerscheff, Erzgauner Leopold Rudolf von Schwanzenbad-Hodenthaler, Graf Athanatos Karamelopulos, Señor Hidalgo Caballero don Peccadillo y Palabras y Paternoster de la Malora de la Malaria, …». Die Fassade verschmilzt dank der App mit einem Bild von Frau Nora (…«who calls me a pig for working on a book»…) und Kindern. Der fotoscheue Joyce selber ist darauf nicht zu sehen. «Das Lieblingsbild seiner selbst zeigt ihn übrigens von hinten…», ergänzt Höhener.
Nach diesem Intermezzo nehmen wir den Weg zurück zum Stadelhofen unter die Füsse. Es ist durchaus gewollt, dass die Düfte der Restaurants auf der Strecke unsere Sinne umschmeicheln, während Joyce darüber sinniert, dass die «Escargots» und Kutteln des «Weissen Kreuz» dem eher ausgefallenen kulinarischen Gusto (gegrillte Hammelnieren, die seinem Gaumen einen feinen Beigeschmack schwachduftigen Urins vermitteln) von Leopold Bloom, der Hauptfigur in «Ulysses», bestimmt auch zugesagt hätten. Dort angekommen, lauschen wir dem Gespräch zweier Gäste. Genauso, wie es auch unser Hauptprotagonist zu tun pflegte, all Moanday, Tearday, Wailsday, Thumpsday, Frightday, Shatterday. Wem das zu profan erscheint, dem sei im Namen des Meisters beschieden: «Ein Schriftsteller sollte niemals über das Aussergewöhnliche schreiben. Das ist recht für einen Journalisten».
Up to the pub: Ohne, dass wir uns vom «Weissen Kreuz» wegbewegen (es gibt eindeutig zu viele Lokale, in denen sich Joyce gerne aufhielt, als dass man sie alle in die Tour einbauen könnte), führt uns ein kleiner virtueller Ausflug auch ins James Joyce Pub. Im Video plaudert die Barkeeperin aus dem Nähkästchen: «Oh, James Joyce kommt öfter vorbei, ja».
Forscher im Gedankengut eines Mysteriums
Quer über den Stadelhofen und das Bellevue streben wir dem «Terrasse» entgegen. Dort sind einige Teile von «Ulysses» entstanden. Welches übrigens auch für Joyces‘ Frau Nora anscheinend ein Buch mit sieben Siegeln blieb, wie uns Joyce soeben verrät: «Ask Nora what some of the passages of Ulysses mean, and she will not be able to answer. She just doesn’t know».
Ursula Zeller und Ruth Frehner, die Kuratorinnen der Zürcher James-Joyce-Foundation, lassen uns in einem Video daran teilhaben, was sie am literarischen Paralleluniversum des Romanschreibers am meisten fasziniert. Nebenbei erfahren wir, dass Zürich vier verschiedene Lesegruppen für die Literatur von Joyce beherbergt – eine Community von Berufenen, die sich begeistert über Jahre hinweg mit jenen Werken auseinandersetzt, die für Otto Normalleser ein endloser Krampf, eine Zumutung, ja ein kaum zu überwindendes Hindernis darstellen. Your battles inspired me – not the obvious material battles but those that were fought and won behind your forehead. Wer die tausend Seiten von «Ulysses» geschafft hat, ist weniger ein Leser als vielmehr Forscher im schöpferischen Gedankengut eines Mysteriums. Und er befindet sich noch nicht mal am Ende, denn, so Höhener «erst beim zweiten Lesen offenbart sich erst die Schönheit des Textes».
«Dying is out of question»
Immer dem eigenwilligen irischen Sprachsingsang des Maestros lauschend (seesoo, hrss, rsseeiss, ooos. Vehement breath of waters amid seasnakes, rearing horses, rocks. In cups of rocks it slops: flop, slop, slap: bounded in barrels) fahren wir mit dem 6er-Tram vorbei am Pfauen, hoch zum Zoo.
Unser Ziel, der Friedhof Fluntern, war einst die letzte Station von Joyce, aber noch lange nicht jene unserer heutigen Tour. Dort angekommen, sehen wir ihn gleich doppelt. Was nicht bedeutet, dass wir uns dem Lebensstil des trinkfreudigen Sprachakrobaten angepasst hätten, nein. Wir finden ihn dort steinern in Denkerpose, ein Buch in der Hand. Kurz darauf tritt er über den Kiesweg, als Figur im Video freilich, und setzt sich neben uns auf die Parkbank. «Es ist eigentlich erstaunlich, wie ganz viele Leute nicht wissen, dass ein Mensch mit solch bedeutendem Renommee seine Spuren in unserer Stadt hinterlassen hat, durch sie geprägt wurde, sogar hier starb», wundert sich Clarissa Höhener nachdenklich. Ihre Hoffnung ist, dass die Tram-Tour dazu beiträgt, den Mann besser kennenzulernen, gerade so, als ob man ihn auf einen Drink getroffen und mit ihm gesprochen hätte. Ein virtueller Schubs quasi, der den Künstler zurück ins alltägliche Leben bringt. Im Fall der Verfasserin dieses Erlebnisberichts ist dieses Vorhaben eindeutig gelungen.
Wenngleich unser Display bald zusehends verschwommen erscheint, so ist das kein technischer Defekt, sondern die Realität von Joyce, der zusehends das Augenlicht verliert. Wir kehren nun – um einen klareren Eindruck des Schriftstellers bereichert – der «anderen Seite» den Rücken und fahren mit dem Tram, wie vom virtuellen James verlangt, in Richtung Sonne… pardon, Sonnegg. Ob die Fahrt hier für Sie ebenfalls endet, oder ob Sie die Entdeckungstour fortsetzen – it’s your «Joyce».
Über die Bux-App und deren Schöpfer
Die multimediale James-Joyce-Stadtführung ist seit Mitte Oktober in der BUX-App erhältlich und findet in englischer Sprache statt. Sie bringt Fans an jene Orte, die auch im Leben des Schriftstellers eine grosse Rolle gespielt haben. Uneingeweihten verschafft sie die Möglichkeit einer ersten Annäherung. Die kostenlose App kann vorerst (leider) nur für IOS im Apple-Store heruntergeladen werden. Möglich macht diese Zeitreise das Start-up-Unternehmen New Babylon Creations, das den Künstler mit seiner Bux-App im heutigen Zürich auferstehen lässt. Übrigens stand der Maler und Bildhauer Constant Nieuwenhuys und seine Vision einer antikapitalistischen, auf allen Ebenen vernetzten «Stadt für den spielerischen Menschen», Pate für den Firmennamen. Das Gründerteam um Geographin Clarissa Höhener, Medienwissenschaftlerin Stephanie Grubenmann und Vincent Kaufmann, Professor für Medien und Kultur, verfolgt nämlich vor allem ein Ziel: Es will mit neuen Technologien georeferenzierte, also per GPS verortete Stadtgeschichten spielerisch vor Ort möglich machen. Der Wind unter den Flügeln der Pioniere sind Philosophien aus den 60er-Jahren; die Avantgarde und der Situationismus. Damit holen sie die Vergangenheit in die Zukunft. Das Erkunden der Stadt durch zielloses Umherschweifen, «Dérive» genannt, und das Aufheben von Grenzen – jene zwischen Kunst und Alltagsleben, zwischen heute und gestern, zwischen hier und dort und, im Falle von James Joyce, zwischen Zürich und Dublin. «Wir wollen den Nutzern keine austauschbare Spiele, sondern Themen mit Substanz bieten», betont Clarissa Höhener, die uns heute begleitet. In ihrer, an den «Best of Swiss App Awards 2017» mit Gold für «Functionality» und Silber für «Virtual/Augmented Reality» ausgezeichneten Bux-App bieten sie in Zürich kostenlos Touren rund um das Leben und Wirken von Künstlern wie Max Frisch, Mitra Devi oder Martin Suter an. Hier finden sich Wolkenbruchs Wiedikon, eine dadaistische Stadtwanderung oder neu eben die Frage «Yssel that the Limmat?» von James Joyce.