Sich ein Fahrzeug zu teilen ist ressourcenschonend und das bedeutendste Merkmal des öffentlichen Verkehrs. Was bringt die Corona-Zeit vor diesem Hintergrund für die Zukunft des öV? Wir haben mit Dr. Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsexperte und Leiter des Studiengangs «Verkehrssysteme» an der ZHAW, gesprochen.
Mit Corona begann der Rückzug aus dem ÖV, getreu dem Motto «Bliib dihei». Unterdessen kehrt das Leben allmählich verhalten wieder zurück, auch in Tram und Bus. Die VBZ haben mit ihrer Kampagne «Zäme für Züri» gezeigt, wie in Zeiten der Verunsicherung ein Miteinander im ÖV möglich ist. Doch welche Spuren haben die vergangenen Wochen und Monate in der Wahrnehmung unserer Fahrgäste hinterlassen? Wohin soll sich der ÖV entwickeln? Einer, der sich mit solchen Fragen intensiv beschäftigt, ist Dr. Thomas Sauter-Servaes, der im Bereich innovativer Mobilitätsangebote forscht und den Ingenieurstudiengang «Verkehrssysteme» an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften leitet. Wir haben ihn gefragt, was Corona für den Zürcher Nahverkehr in Zukunft bedeuten dürfte.
Die Nähe zu Mitreisenden im öffentlichen Nahverkehr war, vor allem während den Hauptverkehrszeiten, schon vor Corona ein Thema. Wird das Problem jetzt verschärft?
Der öV hat seine grosse Stärke im Bündelungseffekt. Das wirkt sich positiv sowohl auf den Flächenbedarf in immer dichteren Städten aus, als auch auf die Klimabilanz. Ein «öV mit Abstand» führt diese Stärken ad absurdum. Der geübte Pendler hat in der Pre-Corona-Ära dank Smarthone & Co sehr effiziente Instrumente entwickelt, um sich auf geringer Fläche einen attraktiven Eigenraum zu schaffen. Gegen Viren sind diese virtuellen Schutzschilde für Augen und Ohren leider wirkungslos. Der Gesundheitsschutz sollte im Vordergrund stehen.
Und langfristig? Ist die Zeit für neue Arbeitsmodelle und damit eine Umverteilung der Fahrgastspitzen angebrochen?
Die durch den Covid19-Katalysator beschleunigte Digitalisierung hat unsere Mobilitätsroutinen über Wochen massiv gebrochen. Trotz der aktuellen Re-Individualisierung des Verkehrs sehe ich langfristig dadurch grosse neue Chancen für den öV – wenn er denn neu gedacht wird. Das Mitdenken von Homeoffice-Zeitfenstern in der Pendler-Rushhour und die Einbindung von Coworking-Spaces gehören sicherlich als non-physische Mobilitätskomponenten zu den Aufgaben, die von den öV-Betreibern schnellstmöglich angepackt werden müssen. Den Pandemie-Schlachtruf «Flatten the Curve» gilt es nun konsequentauf die öV-Stosszeiten anzuwenden.
Sie sagen, wenn er «neu gedacht» wird. Wie sollen etwa «Homeoffice-Zeitfenster» aussehen und welche Rolle hat der öV da zu übernehmen?
Der Digitalisierungsbooster hat das unglaubliche Potenzial, die Zwangsmobilität derjenigen Arbeitnehmer tatsächlich zu flexibilisieren, deren physische Präsenz am Arbeitsplatz nicht unbedingt notwendig ist. Neben einzelnen Homeoffice-Tagen sehe ich hier vor allem veränderte Anfangs- und Schlusszeiten im Büro, wenn Teile des Arbeitstags ins Homeoffice verlagert werden. Das könnte die Verkehrsspitzen signifikant entlasten. Diese Entwicklung ist aber kein Selbstläufer, sondern erfordert kreative neue Tarifangebote und Kooperationen.
Sie haben vorhin die Einbindung von Coworking-Spaces angesprochen. Was ist der Nutzen solcher Kooperationen?
Die öV-Betreiber müssen weg vom Silodenken, sich etwas Neues einfallen lassen. So könnten etwa Kooperationen mit Coworking-Spaces oder auch Gastrobetrieben und Hotellobbys die Möglichkeit bieten, ausserhalb der eigenen vier Wände zu arbeiten, ohne beispielsweise von Bern nach Zürich pendeln zu müssen. Homeoffice ist zwar Teil der Lösung, manchmal geht es aber nicht ohne eine ruhige Umgebung oder eine gewisse Infrastruktur. Ich jedenfalls würde daheim keinen Laserprinter aufstellen wollen. Wenn wir es schaffen, die Leute so aus den Spitzen in die Nebenverkehrszeiten zu schieben und die Auslastung zu verstetigen, schafft dies Nutzen für alle. Es gäbe mehr Sitzplätze und die Kosten würden sinken.
Besteht nicht dennoch die Gefahr, dass die Menschen einfach vermehrt wieder auf das Auto umsteigen?
Ja, diese Gefahr besteht, insbesondere, wenn für den öV ein Superspreader-Ereignis nachgewiesen werden sollte. Ohne intensives Gegensteuern wird dann der Rollback zur Automobilität sehr wahrscheinlich. Zumal in Krisenzeiten Menschen dazu neigen, auf Bewährtes zurückzugreifen, weniger Experimente wagen. Die Autoindustrie wird das Sujet des virensicheren Schutzraums in ihrem Marketing demonstrativ einsetzen.
Und wie wollen Sie diesem Umstand begegnen?
Knapp die Hälfte aller Autofahrten in den grösseren Schweizer Städten findet über Distanzen bis fünf Kilometer statt. Müssen wir dafür wirklich durchschnittlich 1.5 Tonnen mit über 150 PS für statistisch etwa 1.5 Personen in Bewegung setzen? Das ist doch der pure Irrsinn angesichts der städtischen Platzverhältnisse. Unsere Städte könnten bedeutend lebensfreundlicher und emissionsärmer gestaltet werden, wenn wir die Strassenflächen zugunsten des Aktivverkehrs neu verteilen. Nicht von heute auf morgen, aber mit einer klaren Vision, auf die kontinuierlich hingearbeitet wird. Die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo mit Ihrer Vision der 15-Minuten-Stadt scheint mir ein gutes Vorbild zu sein.
Das Auto bietet natürlich eine gewisse Bequemlichkeit. Wie wichtig ist dieser Faktor für den Nahverkehr insgesamt?
Der Faktor Bequemlichkeit ist elementar, wenn die Verkehrswende gelingen soll. Das Auto ist der maximale Komplexitätsreduzierer. Spätestens mit dem ersten Job oder dem ersten Kind denken viele Autolose über die Vorzüge einer eigenen «Rennreiselimousine» mit rollendem Abstellraum nach. Wir brauchen Mobilitätspakete, die emotional wie funktional das Besitzauto substituieren können. Der klassische öV wird in diesen Paketen sicherlich das Rückgrat darstellen. Aber ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trottis bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der öV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein. SBB Green Class ist da einer von vielen spannenden Ansätzen. Davon braucht es dringend mehr.
Apropos Cargobikes: Manche Stimmen meinen, dass im Nahverkehr letztlich vor allem das Velo seinen Siegeszug antreten wird.
Die Popup-Velowege sind während der Coronakrise geradezu zum Symbol des Siegeszugs des Fahrrads geworden. Es hatte den Anschein, als sei in einigen Städten tatsächlich der Paradigmenwechsel im urbanen Verkehr vollzogen: von der autozentrierten Stadt zur Orientierung am Aktivverkehr. Wichtig erscheint mir: Wir sollten nicht von einem Silo ins nächste stürzen. Das Velo könnte ein essentieller Baustein der Mobilität von morgen sein, aber eben nur als Teil des Gesamtsystems.
*Dieser Artikel wurde erstmals am 23. Juni 2020 veröffentlicht.