Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund.
Diesmal: Die Buslinie 46.
«Hinter jedem erfolgreichen Mann steckt eine starke Frau», behauptet der Volksmund mit einem ziemlich anachronistisch wirkenden Sprichwort. Heute jedoch würde man wohl sagen: Um eine Aufgabe gut meistern zu können, müssen die beiden am selben Strick ziehen. Beziehungsweise: Auf einer ähnlichen Linie verkehren.
Oder schliesslich auf den Zürcher ÖV gemünzt: Was wäre die Tramlinie 13, würde sich nicht die Buslinie 46 ebenso ihren Weg vom Bahnhof – dabei nur getrennt durch die Limmat – in Richtung Höngg bahnen? Sie würde unglückselig aus allen Nähten platzen und ihrer namensgebenden Zahl so alle «Ehre» machen. Dabei wirkt die Linie 46 nicht besonders schillernd, sie passiert keine Trendgebiete und führt auch kaum an Sehenswürdigkeiten vorbei, die man den Touristen vorführen würde. Pragmatisch konzentriert sie sich darauf, die Anwohner entlang der Stampfenbach- und Nordstrasse sowie die Höngger rasch und unkompliziert zwischen dem Bahnhof und ihrem Logis hin- und herzupendeln. Trotz diesem unprätentiösen Gehabe würde der Bus ein Wettrennen gegen seine Schwesterlinie, die 13, gewinnen: Eins, zwei drei, wer ist vom HB zuerst bei der Haltestelle «Schwert»? Es ist die 46, mit zwei Minuten Vorsprung.
High-Tech hinter unscheinbaren Fassaden
Soviel zur Theorie, nun zur Praxis. Wie ich mich also unlängst an einem Mittwoch-Nachmittag in den 46er-Bus setze, um seinen Charakter zu analysieren, tuckert er am Bahnhof erst einmal gemächlich über die Brücke und peilt einen Platz an, dessen Bodenständigkeit schon im Namen mitschwingt: den Stampfenbachplatz. Dabei wäre die Vorfahrt mit Lichtgeschwindigkeit ebenso passend, denn die unscheinbaren Fassaden zur Linken und Rechten täuschen. Hinter einer davon nämlich werden Roboter nicht nur zum Stampfen, sondern gar zu akrobatischen Einlagen animiert, virtuelle Feuerwerke auf noch nie dagewesene Weise gezündet, und Gesichter so aufgezeichnet, dass sie animierte Figuren mit lebensechter Mimik zu erschaffen vermögen. Ja, hier befinden sich die Disney Research Studios der ETH, deren Innovationen in Hollywood-Filmen wie «Star Wars» zu sehen sind, und die übrigens im Februar dieses Jahres schon zum zweiten Mal mit einem Sci-Tech-Oscar ausgezeichnet wurden.
Zurück zur Natur
Unser Gefährt aber zischt zügig an dieser gut kaschierten Welt der Computeranimation vorbei, gerade so, als könne es nicht erwarten, möglichst rasch der Innenstadt zu entfliehen und ins Grüne zu kommen.
Dieses aber muss sich der Bus erst verdienen: Zunächst einmal geht es schnurstracks der von Wohngebäuden gesäumten Nordstrasse entlang. An jener Haltestelle, deren Name dem bekannten Naturforscher Lorenz Oken alias Laurentius Okenfuss gewidmet ist (ja, die Okenstrasse) wird er erst auf dem Rückweg verschnaufen dürfen. Der Namensgeber bekleidete übrigens von 1833 bis 1835 den Posten als erster Rektor der Universität Zürich und verwirklichte das 13-bändige Werk «Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände». Sein Lieblingsplatz lag indes nicht in Wipkingen, sondern in Egg auf der heutigen Okenshöhe (what else?), wo ihm zu Ehren eine Gedenktafel zu finden ist.
In Höngg trifft man sich wieder
Über den Bahnhof Wipkingen, wo jeweils am Dienstag und Samstag auf dem schmucken Röschibachplatz ein Frischwarenmarkt stattfindet, weiter die Rosengarten- und Lehenstrasse hinauf, wird es nun mit zunehmender Höhenluft stetig grüner links und rechts der Fahrspur. Der Bus ist am sonnigen Mittwochnachmittag unserer «Charaktertestfahrt» gut gefüllt, das Publikum reicht von einer Gruppe Buebe und Meitli im Kindergartenalter bis hin zu schon etwas älteren Herrschaften. Die entschleunigte Atmosphäre in Höngg wird nun durch den idyllischen Haltestellennamen «Rebbergsteig» angekündigt. Und es bleibt friedlich: Am folgenden «Kempfhofsteig» wurde nicht etwa gekämpft – vielmehr handelt es sich dabei um den Familiennamen der Besitzer der einstigen Wirtschaft «Zum Kempfhof». Und unseres Wissens kreuzten sich beim «Schwert» im wilden Mittelalter auch niemals die Klingen, nein – dafür kreuzen sich in der Gegenwart nun die Fahrtwege der Linien 13 und 46, welche sich, temporär wieder «vereint», die kurze Etappe bis zum Meierhofplatz teilen.
Strassennamen regen die Phantasie an
Während der Blick aus dem Fenster zunehmend das grosszügige Panorama über die Stadt offenbart, wird mit etwas Fantasie die Nähe zum angrenzenden Wald in den Haltestellennamen hörbar; ein inneres Bild entsteht, wie selbige entstanden sein mögen. So hatte man einst vielleicht an der «Wieslerstrasse» ein saftiges Grün vor Augen, um an der «Singlistrasse» im Gewahrsein der lichter werdende Besiedlung munter ein Lied anzustimmen (wer indes die profane Wahrheit will: Es handelt sich in beiden Fällen um Familiennamen). Dann wähnt man sich an der «Segantinistrasse» in einem der detailreichen Landschaftsbilder des grossen Künstlers und schliesslich an der Giblenstrasse auf dem Giebel des Quartiers. Und beim «Heizenholz» schliesslich sind wir so sehr in dieses Fantasiespiel abgetaucht (zu dem natürlich auch die einlullende Fahrt des 46ers beiträgt), dass wir vor dem geistigen Augen sogar die früheren Bürger sehen, die hier, unweit vom Waldrand, in den frostigen Jahreszeiten einst das unabdingbare Holz zum Heizen der guten Stube sammelten.
Den Abstecher ins Zentrum der Natur beim «Grünwald» überlässt der 46er aber dann doch der Linie 485. Schliesslich ist er nicht zum Vergnügen da, sondern als zuverlässiger Gefährte der Höngger auf ihrem Weg zwischen Wohn- und Arbeitsort. Und so steuert er nun das Refugium der Familie «Geering» an, welche rund um den Weiler Rütihof immer noch besonders stark vertreten ist (es heisst, dies sei während rund 500 Jahren der einzige Familienname gewesen, den man hier antraf). Dort, wo früher vor allem der Landwirtschaft und dem Weinbau nachgegangen wurde, stehen heute etliche Mehrfamilienhäuser. Gerade mal drei Bauernhöfe existieren noch in Höngg, einer davon ist der besagte Rütihof, und dort darf der Bus nach seiner nicht ganz unanstrengenden Fahrt ins Grüne nun auch eine verdiente, kurze Verschnaufpause einlegen.
Und so schliessen wir mit der Feststellung, dass der solide und zielorientierte 46er auf seiner Reise nicht nur tempomässig gegenüber der Tramlinie 13 die Nase vorn hat – er schafft es auch höher hinaus.