Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: am Löwenplatz, wo es vieles hat, aber keine Löwen.
Stimmt schon, am Rüdenplatz hat es auch keine Statue eines Hundemännchens. Und den guten Bauingenieur Nöldi Bürkli sucht man auf der Bürkliterrasse beim Bürkliplatz ebenfalls vergebens, das Ebenbild des nackigen Jünglings dort oben ist nämlich jenes von Ganymed, dem «Schönsten aller Sterblichen» in der griechischen Mythologie. Und grad nochmals richtig – am Tessinerplatz gibt es bis dato tatsächlich kein Grotto (dafür aber einen Japaner, den sich nur die «oberen Zehntausend» leisten können, wie man die reichen Pinggel zu Grossmutters Zeiten beschönigend nannte). Eigentlich hält nur der Bahnhofplatz das Versprechen, das er im Namen mitträgt – er hat nämlich tatsächlich einen Bahnhof dabei.
All das tanzte mir mehr oder weniger so durch den Kopf (bis auf die Charakterisierung von Ganymed, die hab ich später im Internet entdeckt), als ich unlängst an einem Samstag kurz vor 14 Uhr am Löwenplatz stand. An einem Samstag, liebe Leserinnen und Leser!!! Also dann, wenn ganz viele Adliswiler und Hinwiler und Wettswiler und Badener und Zuger und sogar ein paar Winterthurer und St. Galler (oder Schaffhauser, Thurgauer, Appenzeller) und Basler und dazu noch schier unzählige Eingeborene und nicht eben wenig Touristen (und von den Hunden war noch nicht einmal die Rede!) zwecks Food- oder Lifestyle-Shopping meinen, in die einzig wirklich grosse Stadt des Landes strömen zu müssen, frei nach dem Motto «lieber ein Kauf- statt ein Alkohol- oder Drogenrausch, gälled Sie!», mit dem man sich für den Kampf durch die Menschen- und Warenmassen gegenseitig befeuert und bestärkt. Anders gesagt: Es gibt keine viel unsinnigere Zeit, um sich in Zürichs City zu manövrieren, als einem frühlingshaften Samstag nach der Lunch-Time.
Dass ich es trotzdem tat, hatte, wie fast alles, was ich oder meine rund 7,6 Milliarden Miterdenbürger tue/tun, natürlich einen Grund. Oder sogar mehrere, wer weiss das schon. Ich jedenfalls weiss es erstaunlicherweise nicht mehr allzu genau (obwohl ich weder davor noch danach einen Rausch gehabt hätte). Das einzige, was ich offerieren kann, ist ein Ausschlussverfahren – ich kann also Dinge aufzählen, die ich an diesem Samstag kurz vor zwei Uhr am Löwenplatz mit Sicherheit nicht habe tun wollen:
- In den Bernies gehen (weil es den nicht mehr gibt)
- Im Sprüngli go Käffele (ich bin ein Honold-Kind)
- In der Haushaltsabteilung des Globus neues (und «garantiert rostfreies»!) Besteck kaufen (das hab ich schon vor ein paar Monaten erledigt)
- Mit dem Tram an den Hauptbahnhof fahren (hätte ich das tun wollen, wäre ich mit dem Tram bis an den HB gefahren, und sicher nicht am Löwenplatz ausgestiegen).
- In die Rio Bar gehen (weil ich von genau da an den Löwenplatz schlenderte)
- Street Golf spielen (das soll ganz witzig sein, aber der Löwenplatz an einem sonnigen Samstagnachmittag wäre kaum die geeignete Piste für einen ersten Versuch in diesem Trendsport).
- Einfach mal meditativ innehalten (ich bin doch nicht blöd, dafür hätte ich mir bestimmt einen weniger überbelebten Ort in «Downtown Switzerland» ausgesucht.
- In der «Delicatessa» des Globus Robiola, Mostarda, Barbera oder andere köstliche Erzeugnisse aus dem Piemont kaufen (die kauf ich mir lieber vor Ort in Italien, da sind sie günstiger zu haben)
Ja, ich glaub das wärs. Lustiger- oder eher irritierenderweise tat ich dann genau, was ich eben in obiger Liste unter Punkt 7 aufgeführt habe: Innehalten, die wärmende Sonne auf der Haut spüren, hinter der Sonnenbrille die Augen schliessen, und die Gedanken fidel davon tanzen lassen … umgegeben von urbaner Betriebsamkeit einen quasi-meditativen Zustand erreichen, ist wahrscheinlich etwas vom eindrücklichsten, was einem Menschen der 3.0-Generation passieren kann (und enorm viel toller, als eine Virtual-Reality-Brille aufzusetzen; ich habe das mal ausprobiert, man kann mir also in diesem Punkt durchaus glauben).
Wie eingangs angedeutet, tanzte mein Denken ein Weilchen um den Löwenplatz. Und dabei um die Tatsache, dass es da weit und breit keinen Löwen hat – weder einen in Stein gemeisselten noch einen jener 400 kunterbunten Kunststoff-Exemplare, die 1986 zur 2000-Jahr-Feier der Stadt Zürich von der Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse in Auftrag gegeben worden waren, danach ein paar Monate lang liegend, sitzend oder stehend an der Prachtstrasse rumlümmelten, und seither Hinterhöfe, Eingangshallen oder Firmensitze zieren. Aber eben, an den Löwenplatz hat es Zürichs königliches Wappentier nicht geschafft.
Obwohl ich noch immer in der fast identischen meditativen Position innehielt, tanzten die Gedanken schon bald vom Platz weg und machten sich mitsamt den Löwen auf und davon, kehrten indes immer wieder mal kurz für Stippvisiten dahin zurück. Um diesem wilden Reigen wenigstens eine gewisse Struktur zu verleihen – der Leserfreundlichkeit kommt das zweifellos zugute – habe ich eine hier zweite Liste angefertigt, in der die wichtigsten Stationen dieser rein geistigen Tanzerei festgehalten sind.
- Wie kommt man vom Löwenplatz mit dem Tram zum Zirkus Knie (wo es im Normalfall auch lebendige Löwen hat), sollte der, wie derzeit, zufällig gerade in der Stadt weilen? Man fährt mit dem Dreier ans Central, steigt dort in den Vierer um, und der führt einen direkt ans Bellevue und damit an den Sechseläutenplatz. Fahrtzeit: 11 Minuten.
- Wie kommt man vom Löwenplatz am schnellsten in den Zoo, um genuine Löwen zu betrachten? Man nimmt den Zehner, fährt damit ans Central, besteigt dort den Sechser, und damit gelangt man direkt zum Zoo. Fahrzeit: 21 Minuten.
- Es gibt nicht viele tolle Songs über Löwen. Der beste, den ich kenne, heisst «The Lions Sleeps Tonight» von den Tokens.
- Apropos Bären und Löwen. Meine KV-Lehre absolvierte ich bei Bank Leu Reisen an der Bahnhofstrasse 32, dem hauseigenen Tour-Operator (was natürlich damals nicht so modern formuliert wurde) des von Säckelmeister Johann Jacob Leu 1755 gegründeten Bankinstituts, wie wir in der internen Branchenkunde lernen mussten … einer der wichtigsten Kunden, gerade was geschäftliche Flugtickets (notabene First Class!) anbelangte, war die Bank Julius Bär. Und im ersten Lehrjahr, in dem man damals vor allem niedere Arbeiten wie Telex- und WC-Rollen nachfüllen und Schreibänder wechseln zu erledigen hatte, war es jeweils ein Highlight, wenn ich ein solches Billett zu Fuss zur Bank Julius Bär an der Bahnhofstrasse 36 bringen durfte; einmal wurde ich dort sogar ins Büro des Star-Bankiers Hans Julius Bär vorgelassen, der mir zum Dank für den Botendienst ein Zehnernötli in die Hand drückte. Cool!
- Global betrachtet sind nicht die ZSC Lions mein liebster Eishockeyclub, sondern die Hershey Bears. Sie spielen in der American Hockey League und sind das Farmteam der berühmten Washington Capitals. Derzeit spielt Jonas Siegenthaler für die Bears, letzte Saison gehörte der junge Verteidiger noch – yep! – den ZSC Lions an.
- Interessanterweise sind einige der wichtigsten Frauen in meinem Leben im Sternzeichen des Löwen geboren; das gilt auch für die wichtigste überhaupt, nämlich meine werte Frau Mama.
- Mir fällt grad ein Löwensong ein, den ich noch besser finde als «The Lion Sleeps Tonight». Er ist «Iron Lion Zion» von Bob Marley.
- Ich bin bei tierischen Kosenamen niemals über «Tiger» hinausgekommen, «Du Löwe» (und auch «Bär» oder «Bärli») blieb mir verwehrt … dafür zum Glück auch das «Chäferli» erspart.
- Eine Safari würde ich schon gern mal noch machen … wobei ich gehört hab, dass die Löwen da fast noch träger rumliegen als in unserem Zoo.
- Meiner Meinung nach sollten die ZSC Lions künftige Meisterfeiern (und davon wird in den kommenden Jahren hoffentlich noch einige geben, mit dieser tollen Mannschaft) unbedingt auf dem Löwenplatz feiern.
Das wäre das wichtigste. Was ich aber unbedingt noch nachreichen möchte, ist die Begründung, wie der Löwenplatz zu seinem tierischen Namen kam – wie auf der halt immer wieder tollen Website alt-zueri.ch zu erfahren ist, ist die Benennung vom sogenannten «Löwenbollwerk» abgeleitet, welches Bestandteil im 17. Jahrhundert erstellt wurde und Bestandteil der vierten Stadtbefestigung war. Oder wie es bei «Gang dur Alt Züri» wörtlich heisst: «Der ehemalige Standort des Löwenbollwerks entspricht dem südlichen Ende der heutigen Löwenstrasse. Oder etwas präziser ausgedrückt: Im Gebiet zwischen Sihlporte, Löwenstrasse (bis Steinmühlegasse) und Schanzengraben. Die Wehranlage selber wurde etwa im 19. Jahrhundert zerstört und abgetragen.»