Der mentale Kopfsprung

Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Bei der Landwiese, wo man so oder so landen kann.

Dienstag, 17. Juli, 07.56 Uhr. Bushaltestelle «Landiwiese»

«Und ich versuche diesmal nicht auszuufern, versprochen!» Ein Satz, der so schrecklich stereotyp klingt wie die Musik des Eurovision Song Contest, vor allem aus meiner Feder, beziehungsweise aus meiner Tastatur, weil ich ihn wieder und wieder und wieder bringe, und mich dann doch nie an die eigene Vorgabe halte, unabsichtlich, klar, es ist ein Gendefekt, oder zumindest eine Charakterschwäche, who knows (ich jedenfalls nicht).

Diesmal jedoch war die Aussage besonders dreist, da ich beim Schreiben das Ufer, über das ich bildlich gesprochen nicht ausufern wollte, direkt vor mir hatte; als Fotografie, sie zeigte mir das Ufer vom Saffa-Inseli …

Intermezzo: Pardon, aber an dieser Stelle müssen wir rasch unterbrechen. Zwecks Protest (er wird friedlich ablaufen, keine Bange), der eminent wichtig ist, da er sich gegen eine Ungerechtigkeit richtet. Es ist ja so, dass vom 17. Juli bis 15. September 1958 auf diesem kleinen Eiland in Wollishofen die zweite Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit – kurz SAFFA – stattfand. Die erste war 30 Jahre davor in Bern durchgeführt worden, und diese Neuauflage, organisiert vom Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF), vom Frauengewerbeverband, vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund (SFK) und 28 weiteren Frauengruppen, hatte als Motto «Lebenskreis der Frau in Familie, Beruf und Staat» gewählt.

Laut Wikipedia vertraten die Ausstellerinnen getreu dem damals vorherrschenden konservativen Frauenbild ein Lebensmodell in drei Phasen: Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit bis zur Heirat, danach das Hausfrauendasein und, Phase drei, die Berufswiederaufnahme, nachdem die Kinder flügge sind. Nicht infrage gestellt wurde dabei gemäss dem Online-Lexikon «die Rolle der Frau als Alleinverantwortliche für die Familie und als ‹Hort der Geborgenheit› im sich immer schneller wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld».

Okay, d’accord, andere Zeiten, andere Sitten. Aber was ist mit heute? Wieso gibt es 60 Jahre danach keine Erinnerungsausstellung, die zeigt, dass sich das Frauenbild (auch in der Arbeitswelt) seit 1958 so sehr gewandelt hat, dass inzwischen ein Protestdiskurs wie «#MeToo» nicht nur möglich ist, sondern dass er für das fehlbare «starke Geschlecht» unmittelbare und gnadenlose Folgen hat? Oder, als daraus abgeleitete spielerische Idee: Wie wärs, wenn man als eine Art zeitgeistige Ehrerbietung an die Frau die von den Linien 161 und 165 bediente Busstation «Landiwiese» in «Saffa-Insel» umtaufen würde?

Von der «Landi» – also der vierten Schweizer Landesaustellung von 1939 – existiert nämlich auch unabhängig von dieser eigens dafür aufgeschütteten Wiese ein stattlicher Haufen Memorabilia. Beispielsweise der von Hans Coray designte «Landi-Stuhl». Oder die Kinderbuch-Rarität «Globi an der Landes-Austellung», von der bloss wenige tausend Exemplare gedruckt wurden. Drei von der Post herausgegebene Sonderbriefmarken. Und natürlich das Lied «Landi-Dörfli» von Marthely Mumenthaler und Vrenely Pfyl. Und nicht zu vergessen das prächtige Riegelhaus «Chäshüsli», das nach der Ausstellung ab- und zwei Jahre später im Garten der Schweizer Epilepsie-Stiftung in Riesbach wieder aufgebaut wurde. Zur Bedeutung der Saffa-Insel hingegen gibt es nirgendwo sicht- oder hörbare Spuren oder Andenken – weshalb geschätzt 97 Prozent aller Menschen, die dort baden, grillieren oder sich anders verlustieren, keine Ahnung haben, woher dieser Name stammt, sofern sie ihn überhaupt kennen. Intermezzo Ende.

… und, im Hintergrund, auch noch das Ufer der Goldküste. Ja, und als ich der zuständigen Redaktorin eben diesen Satz schrieb – «und ich versuche diesmal nicht auszuufern, versprochen!» –, hatte ich das besagte Foto in seiner ganzen Pracht vor mir … tja, wie man sieht: es hat nichts genützt.

Die voyeuristische Velofahrt

Und damit zum eigentlich Anfang dieser Innehaltestelle, bei dem wie immer die Frage geklärt wird: Was zur Hölle mache ich da draussen, so viel näher am Rande als im Kern der Stadt? Notabene mitten unter der Woche, und dann auch noch zu dieser Uhrzeit, zu der ich, wie die aufmerksame Leserschaft selbstverständlich etlichen Lektüren her weiss, in der Regel noch im Tiefschlaf bin? Ich gebs zu, die Verlockung, an dieser Stelle eine subtile Krimi-Mär zu fabulieren, in der eine dreibeinige Hündin, die Grunge-Band Soundgarden, ein Bostitch und die erotische Statue «Mädchen mit erhobenen Händen» von Hermann Haller jeweils eine ziemlich tragende Rolle bekommen hätten, sie war da. Das Problem: Die textliche Ausuferung hätte ein Ausmass angenommen, das mit dem Begriff Innehalten (der ja im Titel dieses Gefäss verankert ist) nicht mehr zu vereinen gewesen wäre.

Darum habe ich gelassen und gebe nun stattdessen die leider sehr profane zum Besten, und die geht so. Jeder einigermassen vernünftige Mensch hat ja heutzutage mindestens zwei Arbeitgeber, falls ihm der eine aus irgendwelchen (blöderweise oft unerklärlichen) Gründen abhandenkommt. Und mein neben der VBZ anderer Arbeitgeber gab mir am Montagabend den Auftrag, am Dienstagmorgen «so früh wie nur möglich» loszuziehen und nach Indizien zu suchen, die zeigen, dass die Hektikstadt schon nach wenigen Sommerferientagen zur Relaxstadt mutiert war. «Also im Sinn von ‹Zürich ist in den Ferien, wenn … ›, und dann verschiedene Varianten, die diesen Satz fertig beenden?», wollte ich wissen. «Ganz genau das», lautete die Antwort.

Also schloss ich am Dienstag um 6.48 Uhr das Velo auf (früher schaffte ichs beim besten Willen nicht) und radelte von Wiedikon aus los. Zuerst gings Richtung Kreis 4, wo ich nach einem Zwischenhalt bei der Kaserne notierte: «Zürich ist in den Ferien, wenn sich zwei erwachsene Menschen am helllichten Tag auf dem Kasernenareal benehmen wie Junghunde beim ersten Erkunden ihrer Geschlechtsreife, derweil sich rund 50 Meter davon entfernt zwei Junghunde benehmen, wie sich erwachsene Menschen am helllichten Tag auf dem Kasernenareal benehmen sollten (nämlich stinkfaul im Schatten liegen und schlafen).»

Danach cruiste ich durch ein paar Aussersihler Seitengassen (und kritzelte in den Block: «Zürich ist in den Ferien, wenn der Plattenladen geschlossen hat, weil der Inhaber weiss, dass die Kids die Sommerhits eh gratis im Internet downloaden.»), vorbei an Bio-Abfall-Containern (Notiz: « …, wenn umweltsensible Mieter bestraft werden, indem ihre grünen Bio-Abfall-Kübel derart selten geleert werden, dass sich deren veganer Inhalt in Kombination mit den hohen Temperaturen zu einer olfaktorischen Geissel entwickelt.») und weiter Richtung Hauptbahnhof (« …, wenn, im Landesmuseum zwar ein grosses Zelt aufgebaut wird, dies aber ganz und gar nichts mit einem Sommerschullager zu tun hat.»).

Kurz darauf bremste ich abrupt für zwei Rentner (« …, wenn Leute mit dem Rollator folgenlos bei Rot über den Fussgängerstreifen gehen können.») und gelangte via Limmatquai (« …, wenn das Limmatschiff zum Limmatschief wird – sprich: prekäre Schräglage hat –, weil die Touristen die Anweisungen des Billettkontrolleurs ignorieren oder überhören und in voller Gruppenstärke auf die eine Seite hocken.») schliesslich an den See, und am Strandbad Mythenquai vorbeifahrend stand ich dann kurz vor acht Uhr am Busstopp «Landiwiese», trank den mitgebrachten Schüttelbecherkaffee und hielt zum ersten Mal an diesem Morgen richtig inne.

So manches geht vergessen, wenn Zürich in den Ferien ist.

Hawaii-Bier und Surfer-Sounds

Dabei stellte ich fest, dass die Nacht kräftig geweint haben muss, der Morgensonne war es tatsächlich noch nicht geglückt, die auf die Busstationsschilder gefallenen Tränen zu trocknen. Dann nahm ich die Sonnenbrille ab und schaute, von der Helligkeit geblendet, mit beinahe geschlossenen Augen Richtung See. Und da überkam mich so unerwartet wie ein Meuchelmord in einem Heimatfilm eine mit Worten nicht zu beschreibende Lust (mit Geräuschen könnte ich es womöglich ausdrücken, aber ich denke nicht, dass Sie sich das würden anhören wollen, darum lass ich es bleiben) auf einen Kopfsprung ins kühle Nass.

Der Sprung – ich konnte die Leichtigkeit eigenartigerweise spürend antizipieren –, hätte mir binnen einer Sekunde alle Schwere und Last vom Körper und Geist genommen. Und das Wasser, auch dieses Gefühl war fast zu eindeutig, hätte mich innerlich wie äusserlich gereinigt. Was da passierte, war eine Art imaginierte Katharsis, und es ward noch besser, weil sich eine immense Sehnsucht nach einem ausgedehnten Dösen auf der Saffa-Insel daran anschloss, gefolgt von einer «Zigi danach» (ein Wunsch, der mich eher irritierte, und zwar aus verschiedenen Gründen). Dann würde ich ein hawaiianisches «Big Wave»-Bier trinken, mir dazu das selbstbetitelte Debütalbum der Surf-Band Allah-Las anhören, und nach weiteren Tagträumen und Kopfübersprüngen in der Zürichsee so gegen Mittag mit dem Lesen von des Buchs «Nelly Diener: Engel der Lüfte (vom kurzen Glück der ersten Lufthostess Europas)» beginnen.

Keine Frage, es wäre mein bislang allerbester Tag in diesem nicht allerbesten Jahr meines Lebens geworden. Dann schaute ich auf die Uhr: 08.07 Uhr. Verdammt, in 53 Minuten musste der Text online sein. Ich wendete das Velo, blinzelte nochmals zum See hinüber, setzte die Sonnenbrille auf und trat in die Pedale.

Zürich ist in den Ferien, wenn…

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