Länger als ein Weekend im Tessin: Damit das Menü im Ticino-Tram so richtig mundet, hat es so einiges an Vorbereitungszeit hinter sich. Die Autorin hat den Köchen in den Topf geschaut und sich erklären lassen, wer was macht, damit das Tram erst starten kann.
Bellevue am Samstag, 16.50 Uhr: Weit und breit kein Oldtimer-Tram in Sicht. Nur ein weisser Mercedes steht auf dem Platz. Der weit geöffnete Laderaum gibt den Blick auf einen Tellerwagen frei. Wie ein Werk von Christo recken sich die in Folie verpackten Teller mit Salat, Trockenfleisch und Formaggini in die Höhe. Eisige Luft schläft mir entgegen. Ist der sibirische Winter eingebrochen? Nein, das Gefährt ist auch ein Kühlschrank. Damit Vorspeise und Dessert schön frisch bleiben.
Neben dem Fahrzeug steht Daniel Schweizer, der Mann, der für das Zunfthaus zur Zimmerleuten und die Kramer Gastronomie das kulinarische Tram und seine Gäste vom Anfang bis zum Schluss begleitet. Zwar ist er kein Tessiner, aber sein Lachen ist das eines Mannes, der von Natur aus gut gelaunt ist. Die konsequente Besetzung für die «Sonnenstube» Ticino-Tram also. Schweizer ist quasi der ÖV-Gastroprofi. Er hat schon im Flugzeug, auf dem Schiff und im Zug für das Wohl seiner Gäste gesorgt. Jetzt zieht er nicht nur im Fondue-Tram die Fäden, auch im Ticino-Tram hält er sie fest in der Hand. «Die Gäste verlassen ihre Welt für eine Weile, und sie haben Freude», sagt er. Man sieht, dass ihm das am Herzen liegt.
Das Tram wird beladen und herausgeputzt
Schon morgens um 10.00 Uhr geht es los im Ticino-Tram: Dann nämlich wird der Oldtimer von Daniel Schweizer und seinem Partner Andrea Chinazzi im Depot Oerlikon mit Servietten, Besteck ausstaffiert und fürs Tessiner Feeling ansprechend ausgeschmückt. Im Heck des Trams reihen sich die Getränke aneinander: Wein, Wasser, Grappa. Gleichzeitig ist man auch im altehrwürdigen Zunfthaus zur Zimmerleuten am Limmatquai nicht untätig. Dort richten Manuel Bucher und seine Crew den Tessiner Salatteller und das Dessert, Panna cotta mit Tessiner Birne her. Tessiner Birne? Jawohl, die Birnen haben Tessiner Sonne genossen.
Schweizer und Bucher sind ein eingespieltes Team, stehen regelmässig in telefonischem Kontakt. Nicht nur, um sich einen guten Morgen zu wünschen, sondern auch, um die Anzahl der Reservationen im Ticino-Tram abzugleichen, die Ankunft des Trams anzukündigen oder Sondereinsätze abzusprechen. Es kann nämlich schon mal passieren, dass beispielsweise ein Gast mit seinem Rucksack zwei Vorspeise-Teller vom Tisch fegt. Dann zaubert das Zimmerleuten-Team im Eiltempo zwei Vorspeisen aus dem Hut, pardon, aus der Küche, die bis zum Eintreffen des Trams am Limmatquai, wo die Hauptspeise zugeladen wird, mitgeliefert werden.
Der perfekte Braten braucht Zeit. Polenta auch.
Während die eigentliche Fahrt für Gäste knapp zwei Stunden dauert, hat die Hauptspeise schon eine etwas längere Reise hinter sich. 68 Stunden nämlich wird Nonnas Brasato di manzo in Merlot und verschiedenen Gemüsen mariniert. Länger dauert die Reise durch den Gotthard wohl auch bei Ferienbeginn nicht. Und woher kommt das Rindfleisch? Nicht aus dem Tessin, aber selbstverständlich: Schweizer Fleisch. Alles andere ist Beilage, zum Beispiel die Polenta. Auch diese lässt sich Zeit im Topf: Zwei Stunden braucht der grobe Mais, bis er weich wird und sich mit Rosmarin, Thymian und Parmesan verfeinern lässt. Um 18.05 Uhr schliesslich schlägt uns der heisse Dampf aus dem Ofen entgegen, in welchen der vorbereitete Braten jetzt geschoben wird. Auch der Tellerwagen muss nicht frieren und wird auf 220 Grad erhitzt.
Wie ein Schweizer Uhrwerk –auf die Minute genau.
Am Bellevue geht’s die Fahrt um 18 Uhr mit der Vorspeise los. Um 18.15 Uhr klingelt das Telefon: «Wir sind am Paradeplatz». Exakt wie eine Schweizer Uhr: Zwei bis drei Minuten – länger darf das Menü nicht auf dem Teller liegen, bis es im Tram serviert wird. Fünf bis acht Leute kümmern sich um das Menü im Ticino-Tram, aber natürlich nicht nur: Auch die Bestellungen der Gäste im Zunfthaus zur Zimmerleuten wollen zubereitet werden. Heute sind zwei Bankette für 30 und 60 Personen im Haus zu bewirten. Zwischen Brasato und Polenta bitten also auch das Züri-Gschnätzlets und die Nüdeli um Aufmerksamkeit. Alle Zahnräder im Team greifen ineinander, bringen das kulinarische Uhrwerk zum Laufen. Manuel Bucher und seine Subchefs geben den Takt an. Kurz bevor die Uhr 18.30 Uhr schlägt, richtet sich die volle Konzentration auf das heisse Geschirr und seinen Inhalt: Der Braten im Süden, das Gemüse im Westen des Tellers. Ganz wie es sich gehört. Diese werden nun in den grossen, heissen Tellerwagen geladen, den der Küchenchef und seine zierliche Mitarbeitende beherzt anpacken und zum Schluss gar über das Kopfsteinpflaster tragen. Das Tram kommt um die Ecke, gleich wird das Tessiner Festmahl zugeladen. Drinnen warten bereits die hungrigen Gäste – das Vergnügen nach Tessiner Art kommt jetzt so richtig ins Rollen.
Wissenswertes zum Menü
Die Gerichte sind durchgehend lactosefrei. Für Vegetarier oder Kinder, die noch keine Polenta mögen, gibt’s Alternativen. Bitte einfach bei der Reservation anmelden. Zusammengestellt wurde das Menü von Enzo Chiavetto des Restaurants Da Pippo an der Herdernstrasse – selbstverständlich ein waschechter Tessiner. Weitere Informationen gibt es unter www.ticinotram.ch.