Das «Zukunftsbild ÖV 2050» bildet die Grundlage für die bevorstehende Netzentwicklungsstrategie 2040. Ein Ziel davon ist die Schaffung von direkten, schnellen Verbindungen: Ein ÖV-Ringsystem, bestehend aus starken tangentialen Achsen, ist dabei ein probates Mittel, um in der Zukunft die neuen Stadtzentren Oerlikon und Altstetten und die wichtigsten Verkehrsknoten miteinander zu verbinden. Wir haben mit Fachbeirat Claudio Büchel, Professor für Verkehrsplanung an der Ostschweizer Fachhochschule und Mitglied des Fachbeirats im Projekt Zukunftsbild ÖV 2050, über diese Tangenten und weitere Themen des Zukunftsbilds zum Zürcher ÖV gesprochen.
In der Mathematik ist die Tangente eine Gerade, die eine Kurve berührt. Um Geradlinigkeit im Sinne von direkten Verbindungen geht es auch bei den Tangenten, die im Rahmen des Projekts Zukunftsbild ÖV 2050 in den Vordergrund rücken. Sie sollen es möglich machen, dass die Zürcherinnen und Zürcher in der Zukunft auch ausserhalb des eigentlichen Stadtzentrums flott im Tram herumkurven.
Wenn im Zürcher ÖV die Weichen neu gestellt werden, sind natürlich die relevanten städtischen und kantonalen Fachleute mit im Boot beziehungsweise, in diesem Fall, im Tram. Wichtig ist aber eine unabhängige Aussensicht: Um diese einzubringen, wurden drei Fachbeiräte aus Wissenschaft, Ingenieurwesen und ausserkantonaler ÖV-Verkehrsplanung in das Projekt involviert. Einer von ihnen ist Claudio Büchel, Professor für Verkehrsplanung an der Ostschweizer Fachhochschule. Er hat mit uns über das ÖV-Ringsystem und die Funktionalität von Tangentialverbindungen gesprochen, die eine wichtige Basis für die nachfolgende Planung des zukünftigen ÖV-Netzes in Zürich darstellen.
Herr Büchel, Sie wurden als Fachbeirat in das Projekt Zukunftsbild ÖV 2050 involviert. Zuallererst, was beinhaltete diese Funktion konkret?
Als Fachbeiräte begleiten wir den Prozess der Planung. Es geht darum, einen kritischen Blickwinkel einzunehmen. Konkret achten wir darauf, ob etwas Wichtiges ausser Acht gelassen wird oder ob man sich zu sehr auf Details fokussiert. In diesem Sinne behalten wir das grosse Ganze im Auge: Die Planung muss im Zusammenhang mit den übrigen Verkehrssystemen wie der S-Bahn und der Stadtentwicklung stehen. Auch die Bedingungen an den Haltestellen spielen eine Rolle oder wie viele Fahrgäste in den jeweiligen Gebieten unterwegs sind.
Ein Kernelement des zukünftigen Zürcher ÖV soll ein ÖV-Ringsystem mit Trams sein. Es gibt allerdings auf Teilabschnitten des vorgeschlagenen Ringsystems schon heute tangentiale Verbindungen mit Bussen. Wozu also das Tram?
Tatsächlich sind die zahlreichen tangentialen Verbindungen mit Bussen eine grosse Stärke des städtischen ÖV-Netzes. Immerhin war auch die erste Buslinie, die Linie A, in Zürich eine Tangentialverbindung: Sie führte von der Utobrücke via Albisriederplatz zum Rigiplatz. Die Neuerung besteht nun darin, dass das ÖV-Ringsystem mit seinen Tangentialen keine Ergänzung zum bestehenden Netz darstellt, sondern ein Hauptbestandteil davon ist.
Was haben die Kunden davon?
Nehmen wir als Beispiel eine Fahrt zwischen den Quartieren Oerlikon und Altstetten. Heute ist es so, dass Sie zuerst mit dem Tram zum Bucheggplatz fahren und dort auf den Bus umsteigen. Am Albisriederplatz steigen Sie nochmals auf den Bus oder das Tram um. Die neue Tangente hingegen soll direkte Verbindungen schaffen, sodass ein Umsteigen nicht mehr nötig ist. Damit sind Sie auch schneller unterwegs.
Rechtfertigt dieser Vorteil den damit verbundenen Aufwand?
Wir müssen bedenken, dass die Busse heute auch von der Kapazität her allmählich an ihre Grenzen stossen, beispielsweise auf der Hardbrücke. Wenn die Stadt also weiterwächst, müssen wir an grössere Fahrzeuge denken. Das wäre dann das Tram.
Wie ist dieses ÖV-Ringsystem für die Stadt und Region insgesamt nützlich?
Die Tangenten sind an ganz vielen Orten mit dem übrigen Netz verbunden, daraus entstehen zahlreiche Möglichkeiten, neue Linien zu schaffen. Man kann das noch weiterdenken: Die Forchbahn, die Glattalbahn, die Limmattalbahn etwa sind alle mit dem Ringsystem verbunden. Das bedeutet, dass auch über die Stadtgrenze hinaus ein besseres Angebot entsteht. Als konkretes Beispiel würden auch Fahrgäste aus der Agglomeration die Universität oder einen anderen Stadtteil leichter erreichen.
Sehen wir uns dieses ÖV-Ringsystem doch etwas genauer an.
Im Norden sieht die Idee so aus, Affoltern via Oerlikon mit Schwamendingen und Stettbach zu verknüpfen. So eine Verbindung ist ja schon länger ein Thema: Die bisherigen Überlegungen werden in den weiteren Prozess natürlich miteinbezogen.
Den Ostring gibt es bereits auf der Strecke vom Milchbuck via Rigiplatz und Universitätsspital bis zum Bellevue. Dort ist die Idee, die bestehende Tramstecke gewissermassen einem Upgrade zu unterziehen. Es geht dabei vor allem darum, eine Beschleunigung der Reisezeit zu erreichen oder auch eine Taktverdichtung, etwa indem man eine zusätzliche Linie darauf führt.
Hingegen gilt die Redensart «Im Westen nichts Neues» für Zürich nicht…
Im Westen ist einerseits ein äusserer Ring angedacht, der die neuen Stadtzentren Oerlikon und Altstetten verbindet und dabei auch den Norden mit Schwamendingen und den Bahnhof Stettbach sowie den Südwesten bis Bahnhof Enge miteinbezieht. Beim inneren Ring von Oerlikon über die Hardbrücke bis Wiedikon und Enge ist heute schon einfach vorstellbar, wie das aussehen könnte. Hier geht es vor allem darum, die wichtigen Verkehrsknoten miteinander zu verbinden.
Braucht es in Zukunft zwei Tangenten im Westen der Stadt?
Diese Frage muss jetzt eingehend geprüft werden. Grundsätzlich sind die Charaktere der verschiedenen Tangenten im Ringsystem aber alle ein bisschen unterschiedlich: Die Strecke von Altstetten via Hönggerberg nach Oerlikon würde einen weitaus grösseren Aufwand nach sich ziehen. Dort steht ja die Frage nach einem Tunnel im Raum. So etwas lässt sich vorab auch nicht mit Busverbindungen testen. Die Herausforderung auf der Strecke über die Hardbrücke ist hingegen eher politischer Natur.
Gibt es auch Abschnitte des Ringsystems, die einfacher zu realisieren sind?
Zwischen Altstetten und Wiedikon eröffnen sich auf jeden Fall verschiedene Möglichkeiten. Hier müsste man in einem nächsten Schritt den Variantenfächer öffnen und daraus das Optimum zwischen Kosten, Nutzen und politischer Umsetzbarkeit finden.
Wenn nun ein Teil des Ringsystems nicht realisiert werden könnte, gäbe es Alternativen?
Das weiss man schlicht noch nicht. Diese Frage zu klären ist Aufgabe der folgenden Netzentwicklungsstrategie.
Welche Bedingungen muss das ÖV-Ringsystem erfüllen, um sein Ziel zu erreichen?
Wichtig ist, dass der Fahrtakt hoch ist, also alle paar Minuten ein Fahrzeug unterwegs ist, und sie müssen kurze Reisezeiten mit sich bringen.
Definieren Sie «kurze Reisezeiten».
Ich sage es mal so, ein 72er-Bus, der am Bucheggplatz eine Ehrenrunde drehen muss, oder ein 80er, der vor dem Meierhofplatz im Stau steht, liegt bei einer leistungsstarken Tangentialverbindung, wie wir sie uns vorstellen, nicht drin. Das muss funktionieren, wie wir uns das von den Tramlinien in der Stadt gewohnt sind, nämlich so, dass man oft und ohne Verzögerung vorwärtskommt.
Mit dem Ringsystem sollen Entwicklungsgebiete wie der Hönggerberg oder die Uni Irchel erschlossen werden. Warum genau die Hochschulen?
Es geht weniger um die Hochschulen als solches, jedoch generieren diese Orte sehr viel Verkehr mit zahlreichen Studierenden, Arbeitsplätzen, Besucherinnen und Besuchern. Ideal wäre die Erschliessung durch eine S-Bahn. Das ist aber nicht gegeben, und darum ist es umso wichtiger, dass diese Spots sehr gut mit den verschiedenen S-Bahnhöfen vernetzt sind. Das ist etwas, was so eine Tangente leisten kann.
Zurück zur S-Bahn. Steht das ÖV-Ringsystem nicht in Konkurrenz dazu?
Wichtig ist die Feststellung, dass die beiden Systeme ganz unterschiedliche Funktionen haben. Die S-Bahn verbindet Zürich mit der Grossregion. Zwar gibt es für den stadtinternen Verkehr einzelne Verbindungen, bei denen die S-Bahn eine Rolle spielt. Die Strecke von Oerlikon nach Stadelhofen ist so ein Beispiel. Die Hauptaufgabe kommt stadtintern aber einem dichten Tram- und Busnetz zu.
Wichtig ist also eher das Zusammenspiel?
Eine optimale Verknüpfung mit der S-Bahn ist essenziell. Deswegen ist das ÖV-Ringsystem vor allem auch auf Oerlikon, Altstetten, Enge und Stadelhofen ausgerichtet, sodass gute und unkomplizierte Anschlussbeziehungen zwischen diesen beiden Systemen entstehen.
In Altstetten und Oerlikon sollen neue Stadtzentren entstehen. Ist das nicht bereits heute der Fall? Worin besteht die Neuerung?
Diese beiden Gebiete als Stadtzentrum zu definieren ist sinnvoll, weil sie verkehrsmässig sehr gut erschlossen sind. Im Falle von Oerlikon ist die Entwicklung zum Stadtzentrum tatsächlich bereits abgeschlossen, ebenso wurde das ÖV-Netz Schritt für Schritt angepasst. Jede Oerliker Bus- und Tramlinie kommt irgendwann an einer Haltestelle vorbei, die an den Bahnhof angeschlossen ist. Man sieht dort beispielhaft, wie so eine Stadtentwicklung als zusätzliches Zentrum gedacht ist, auch in Bezug auf den ÖV. In Altstetten hat die Entwicklung etwas später begonnen. Mit der Limmattalbahn entsteht aber eine weitere gute Anbindung an die Region. Die Frage ist dort eher, wie das restliche Altstetten optimal an den Bahnhof angeschlossen wird.
Welche Aspekte liegen Ihnen bezüglich des ÖV-Ringsystems besonders am Herzen?
Neue Tramstrecken sind ein guter Motor für die Stadtentwicklung und bringen Dynamik in ein Gebiet. Daher muss die Netz- gut mit der Stadtentwicklung abgestimmt sein, das unterstützt sich gegenseitig. Das bedeutet, dass dort neue Strecken gebaut werden, wo sich ein Gebiet entwickelt, aber auch vice versa, indem sich ein Gebiet weiterentwickelt, wenn dort neue Strecken entstehen. Die Fachleute der Stadtentwicklung waren ja aber im Prozess von Anfang an dabei.
Wenn wir uns die Tangenten genauer ansehen, läuft es darauf hinaus, dass einzelne Abschnitte Tunnels benötigen. Warum nicht gleich eine U-Bahn?
Man darf das nicht so binär sehen in dem Sinn, dass es entweder eine U-Bahn gibt oder ein Tram. Auch das Tram lässt sich unterirdisch durch einen Tunnel führen, oder über Brücken und durch Fussgängerzonen. An gewissen Orten sind unterirdische Streckenführungen also durchaus sinnvoll. Eine U-Bahn komplett neu zu bauen wäre hingegen äusserst aufwändig. Ressourcen, die man effizienter in eine zielgerichtete Verbesserung des bestehenden Netzes investieren kann. Ein weiterer Faktor ist der Zugang: Wenn Sie lange bis zur nächsten U-Bahn-Station laufen müssen, ist Ihr Zeitgewinn nicht mehr wirklich gross.
Glauben Sie, dass es gelingen kann, durch ein solches ÖV-Ringsystem die Zürcherinnen und Zürcher zu einem Umstieg vom Auto auf den ÖV zu motivieren?
Auf jeden Fall. Das Auto hat den Vorteil, dass man jederzeit von überall nach überall fahren kann. Punkto «jederzeit» ist der ÖV aufgrund des dichten Fahrplans in der Stadt ebenbürtig. Was den Punkt «überall» angeht, hat ein Verkehrsunternehmen den Nachteil, dass es sein Angebot der Nachfrage anpassen muss. Klassischerweise ist das Angebot deshalb auf das Zentrum ausgerichtet. Ausserhalb des Zentrums müssen die Fahrgäste bislang oft Umwege in Kauf nehmen oder mehrfach umsteigen. Stärkt man aber die Tangentialen und kann so direkte, schnelle Verbindungen anbieten, ist der ÖV plötzlich auch in dieser Hinsicht in der Lage, mit dem Auto mitzuhalten.
Zur Person
Claudio Büchel ist Professor für Verkehrsplanung an der OST Ostschweizer Fachhochschule (vormals Hochschule für Technik Rapperswil). Dabei ist er Dozent für den Bachelor-Studiengang Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung und Partner des Instituts für Raumentwicklung IRAP, welches sich unter anderem auch mit Fragen nach dem Nutzen der Digitalisierung für die Raum- und Verkehrsplanung befasst.
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