Das freudsche Leid einer Buslinie

Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Heute: Die Buslinie 33.

«Das Psychogrạmm ist eine psychologische Persönlichkeitsstudie», sagt der Duden.  «Mach ein Psychogramm der Buslinie 33», sagt die Redaktion – dummerweise kann mir der Bus keinen Persönlichkeitstest ausfüllen. Was also tun? Ganz einfach: Wir führen einen fiktiven Psychotest durch – oder in der Fachsprache: Wir lassen die Linie 33 in unser virtuelles Ambulatorium zur verhaltenstherapeutischen Diagnostik einfahren, auf dass sie sich Freud und Leid von ihrer Seele beziehungsweise von ihrem Motor reden möge.

Erste Sitzung

Werte Buslinie 33, wie fühlen Sie sich in diesem Moment?
Es rumort im Getriebe. Auf vbzonline.ch haben die schon viermal über die Linie 3 geschrieben. Wird man dort nun 44mal über mich schreiben? Ich bezweifle es.

Die Berichte über die Tramlinie 3 lassen Ihr Getriebe rumoren?
Ich habe schon früh gemerkt, dass ich ein Tram hätte werden sollen. Bei meiner Geburt 1927 war ich die Linie A – die erste städtische Autobuslinie. Dann, 1942, der lang ersehnte Wandel: Ich bekam einen Stromabnehmer! Aber anstatt dass ich zum Tram wurde, hat man meine Strecke 1954 zweigeteilt. Ich fuhr nur noch von Morgental bis Toblerplatz. Erst nach vielen Jahren durfte ich weiter bis Bahnhof Tiefenbrunnen.

Was ist dann passiert?
Ab Dezember 2013 schickten sie mich zum Triemli. Seither tänzelt die Linie 3 vor meiner Nase rum. In Ihrem Schatten brumme ich ab Hubertus zum Albisriederplatz, während sie klingelnd vor mir herstolziert und mir im Licht steht – sie in Form eines schnittigen Trams, ich in der Gestalt eines eckigen Busses. Dabei fahren wir beide mit Strom, 100 Prozent Ökopower – bloss ICH kann auch ohne Strom, ha! Ich hab nie den einfachen Weg gesucht. Meiner ist viel länger. Ich ächze den Berg hoch bis zur Kirche Fluntern, kutschiere Geschäftsleute zum Bahnhof Hardbrücke und das Jungvolk in den Kreis 5. Ich fahre mehr Kurven als das Postauto in den Bergen, um Familien, Senioren und ganze Schulklassen im Kreis 6 an ihr Ziel zu bringen. Derweil Madame die Abkürzung durch die Innenstadt nimmt, diese Hipster-Linie, nur um sich mit dem Ruhm prominenter Plätze zu bekleckern: Stauffacher – Bahnhofplatz – Central, Hauptsache schön viel Publikum.

Sie denken, dieser Ruhm sollte Ihnen gebühren? Weshalb?
Die Frage bringt meinen Trafo zum Glühen! Ich zieh die Sache durch, bleibe am Klusplatz weiter auf Achse bis Tiefenbrunnen, obwohl auf diesem Abschnitt kaum je Vollbesetzung zu erreichen ist. Und die 3? Macht Päuschen – und kehrt. Ich darf nicht mal am selben Ort halten, muss mich in die Seitengasse trollen. So also ist «Trolleybus» gemeint! Am anderen Ende dasselbe Spiel: Wer zieht vom pittoresken Albisrieden zum Triemli und holt die Geschwächten und Kranken ab, wereliwer? Moi. Aber über mich schreibt kein Mensch.

Aber hallo, nun schreibe doch ich in diesem Moment über Sie!
Jaja. Dennoch. Der Unbill hat Spuren hinterlassen – ich habe Falten bekommen, gar einen ganzen Faltenbalg!

Das alles muss schwer für Sie sein. Wie gehen Sie damit um?
Manchmal reicht es mir einfach. Vor drei Jahren blieb ich am Albisriederplatz stehen, weil ich Richtung Innenstadt wollte. Die Fahrgäste haben mich gestossen, man stelle sich das vor. Sowas ist doch Mobbing?! Das Schlimmste aber ist: Manchmal rolle ich nachts aus dem Depot, um die Linie 3 abzufahren. Es ist wie ein Zwang, ich höre vermeintlich die Stimme der Leitstelle: Sie befiehlt mir, auszufahren. Dann stelle ich mir vor, wie ich auf den Gleisen dahinschwebe: Ich bin auch ein Tram.

Immerhin bleiben Sie Ihrem Wesen als Pionier treu – das erste selbstfahrende Fahrzeug in Zürich.
Ja, aber ich habe Angst, mit leerer Batterie stehenzubleiben.

Die Stunde ist leider um. Bis zum nächsten Mal gebe ich Ihnen eine etwas paradoxe Aufgabe. Sie sollen so oft wie möglich nachts auf der Linie 3 fahren. Beobachten Sie genau, was das bei Ihnen auslöst.

Zweite Sitzung 

Eine Woche später findet die zweite Sitzung statt. Wirklich heiter sieht die Linie 33 nicht aus, als sie erneut in unser psychologisches Ambulatorium einrollt.

Sie wirken ein wenig verstört. Was haben Sie auf Ihren nächtlichen Fahrten erlebt?
Es war schrecklich! Als ich letzten Samstag nachts auf der Linie 3 fuhr, war alles ganz anders. Am Central wartete ein ganzer Pulk von Leuten, hunderte Augenpaare auf mich gerichtet. Einige rannten mir fast vor die Räder, ein anderer polterte an die Scheibe, fluchte wie ein Bierkutscher. Aufmachen solle ich, sofort. Ich flüchtete laut hupend über den Weinberg auf meine alte Strecke.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesem einschneidenden Erlebnis?
Plötzlich wurde mir bewusst, wie es tagsüber sein muss, wenn noch mehr Leute auf der Strasse sind. Ein furchtbarer Stress! Und dann noch auf rutschigen Schienen, in permanenter Bremsbereitschaft. Was, wenn die Leute dazu noch blindlings durch die Gegend stolpern, weil sie Pokémons suchen? Kaum auszudenken. Alles wartet darauf, meine Gänge zu verstopfen. Schlimmer als am Escher-Wyss-Platz, und ich hab dort schon regelmässig das Türflattern. Heute habe es richtig genossen, die Vögel an der Vogelsangstrasse zu hören, das Heidi am Spyriplatz zu sehen und im gemütlichen Tempo eines Wanderers durch die Hinterbergstrasse zu rollen. Wenn ich’s genau bedenke, bin ich mit meiner Strecke doch ganz zufrieden. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste – den ganzen Ruhm brauch ich eigentlich nicht mehr. Letztendlich bin ich sogar froh, dass in absehbarer Zeit auch noch ein Tram über die Hardbrücke fahren wird. Das wird mich bestimmt ein wenig entlasten…

Über die Linie 33

Streckenlänge: 12'112 Meter Anzahl Haltestellen: 33 Richtung Triemli, 34 Richtung Bahnhof Tiefenbrunnen Lieblingsplatz entlang der Linie: Fritschi-Wiese und Friedhof Sihlfeld (auf der einen tobt das Leben, im anderen herrscht Stille - ein Kontrastprogramm). Häufigste Berufe der Fahrgäste (Vermutung): Pflegepersonal Passender Liniensong: Thirty-Three - Smashing Pumpkins

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