Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Friedhof Hönggerberg, wo man nicht nur die letzte Ruhe findet.
Donnerstag, 11. Januar, 15.29 Uhr. Bushaltestelle Friedhof Hönggerberg
Was mach ich hier oben? An diesem Wintertag? Um diese Uhrzeit? Und wieso überhaupt Höngg? Beziehungsweise eben: Hönggerberg?
Spontan weiss ich auf keine der Fragen eine Antwort, ich muss noch ein wenig nachdenken. Darum zum Auftakt mal etwas, das ich mit Bestimmtheit sagen kann, und zwar das da: Der 38er-Bus – er war es, der mich da hinaufbrachte – scheint mir etwas schwierig einzuschätzen. Also vom Charakter her, meine ich. Er arbeitet nämlich von Montag bis Freitag nur von 6.14 bis 20.14 Uhr, am Wochenende beginnt sein Dienst sogar deutlich nach 8 Uhr morgens! Ihn direkt «faul» zu schimpfen, ginge zu weit, klar, aber besonders ins Zeug legt er sich wahrhaftig nicht. Der andere Punkt, der etwas irritiert: Auf seiner Strecke liegt ein Pflegezentrum (Käferberg), ein Spital (Waid) – und ein Friedhof (Hönggerberg!), und zwischendrin findet man auch noch Stationen namens «Am Börtli» und «Schwert», die jetzt rein namentlich also auch nicht gerade die schiere Lebensfreude ausstrahlen. Geht mich nichts an, klar, aber ich meine ja nur.
Womöglich bin ich ja aus reiner Neugier in Höngg gelandet, weil mir dieses Quartier nach wie vor ziemlich unbekannt ist. In meiner Zeit als Fussballjunior mit dem FC Wollishofen spielte ich kaum je gegen den SV Höngg (bei dem übrigens der spätere GC-Star und Basel-Erfolgstrainer Christian Gross seine Karriere begann), wir bekamen es meist mit den Grobianen von Wädenswil, Richterswil, Lachen, Siebnen und Tuggen zu tun. Für die ETH Hönggerberg war ich zu wenig intelligent, die Werdinsel für den Badeplausch stets zu weit von meinen Wohnungen entfernt. Und sonst? In Bindellas Höngger Vinothek habe ich schon Weine gepostet, von den Eingeborenen kenne ich Stefan Hohler, Polizeireporter beim «Tagi», höchstpersönlich … und dank einem von ihm verfassten Buch lernte ich mit dem Fluchthelfer, Abenteurer und Lebemann Hans Ulrich Lenzlinger auch den wahrscheinlich schillerndsten Höngger ever kennen. Ich denke, das wärs … ach nein, falsch, da war noch ein fünftägiger Zivilschutzeinsatz als Fahrer fürs Waidspital – allerdings taugte der natürlich auch nicht für ein adäquates Sightseeing.
Einsame und politisch korrekte Schönheit
Sightseeing, gutes Stichwort! Denn nach der zehnminütigen Akklimatisierungsphase, in der ich an einem Wanderwegweiser (mit der interessanten Angabe, dass der Marsch bis Baden vier Stunden und fünfzig Minuten dauere) vorbei bis zu den Familiengärten, und von da – auf Aussenstehende, wären solche da gewesen, was sie jedoch nicht waren, allenfalls ziemlich orientierungslos wirkend – in die gerade entgegengesetzte Richtung bis zur nahen Endstation «Schützenhaus Höngg» zottle, stelle ich um 15.39 Uhr freudig fest: «Es ist echt ver****t (wir wollens dem rüden Umgangston des US-Präsidenten nicht gleich tun, darum wird dieses Fluchwort zensiert!) lauschig, ruhig und einfach schön hier oben!»
Da noch immer niemand sonst in der Nähe ist, sage ich das zu mir selbst – was, naja, eher seltsam ist. Hätte ich damit noch vier Minuten zugewartet, wären wenigstens zwei ältere deutsche Damen Zeugen meines Entzückens geworden. Direkt, nachdem sie ihren roten Opel auf dem Friedhof-Parkplatz abgestellt und mit je einem Blumenstrauss ausgestattet, das Tor zum Reich der Toten passieren, das sich gegenüber der Haltestelle befindet.
Vier wissenswerte Angaben zu den Besonderheiten dieses zwischen 1946 und 1948 erbauten Friedhofs: 1. Die meisten lebenden Menschen gehen via Eingang an der Michelstrasse auf den Friedhof, obwohl sich das architektonische Hauptportal nordwestlich davon, an der Notzenschürlistrasse befindet. 2. An der Frontwand der Abdankungshalle entdeckt man ein Fresko des bedeutenden Zürcher Malers Max Gubler. 3. Zum Fundus des Friedhofs gehört eine Sammlung alter Grabkreuze und -Stelen sowie erhaltenswerte Grabsteine. 4. Neben den gängigen Grabtypen Gemeinschaftsgrab, Familien- und Kindergrab bietet der Friedhof Hönggerberg seit 2003 eine weitere Bestattungsoption, die es sonst nur noch im Friedhof Leimbach gibt – nämlich die Beisetzung in einem 3,3 Hektaren grossen Aschenwald. All diese Infos, es sei an dieser Stelle deklariert, stammen von der Website der Stadt Zürich und von Wikipedia.
Auch hier hat es «Promis»
Weil es für die kontemplative Tätigkeit des Innehaltens kaum bessere Orte gibt als Friedhöfe – immerhin machen die, die da hoffentlich ihre ewige Ruhe gefunden haben, nichts Anderes – tue ich es den erwähnten deutschen Damen gleich und setze Fuss um Fuss auf den steinernen Weg. Im Unterschied zu meinen Vorläuferinnen tue ich das jedoch ohne Blumen und ohne Ziel, lasse mich treiben, gehe mal nach links und dann nach rechts, mal hinab und mal hinauf, sehe dabei ältere und frischere, schlichtere und schmuckere Gräber. Ich kenne hier niemanden, mein «Friedhof» – also da, wo meine Ahnen, Bekannten oder Verwandten meiner Bekannten und Freude begraben sind – liegt quasi vis-à-vis ennet der Stadt, in Wollishofen, es ist ein Ort namens Manegg.
Und doch stimmt das mit «ich kenne hier niemanden» nicht so ganz. Mindestens vom Namen her weiss ich sehr wohl, wer der 2002 verstorbene Oscar Plattner war, der hier zur Ruhe gebettet ist – dass er nämlich als Velofahrer sowohl bei den Amateuren (1946) als auch bei den Profis (1952) den Weltmeistertitel geholt hatte. Ebenso bekannt sind mir auch die Namen Fritz (1874-1945) und Paulette (1880-1967) Brupbacher-Raygrodski, die in Zürich beide nachhaltige linkspolitische und humanistische Spuren hinterliessen – unter anderem im Bereich der Sexualaufklärung und im Kampf für die legale Abtreibung – und die seit 2009 in Wiedikon gemeinsam durch den Brupbacherplatz geehrt werden, an dem sich übrigens auch die trendige Gelateria di Berna befindet. Und ja, auch von Maler Johannes Itten (1888-1967) oder von Ex-Stapi Adolf Lüchinger (1894-1949) habe ich schon gehört, auch sie sind auf der Website von Grünstadt Zürich als «Prominente Verstorbene im Friedhof Hönggerberg» aufgelistet. Abgesehen vom Ehrenmal für die Brupbachers habe ich beim Spaziergang jedoch keines dieser Promi-Gräber gesehen, ich bin erst später zuhause darauf gestossen.
«Burglind» fegt durchs Hirn
Es ist halb fünf Uhr, als ich ich vor der Abdankungshalle stehe – pardon: innehalte – und sehe, wie der schöne Wintertag langsam sein Licht runterdimmt, den Mond anknipst, und die Wolken beiseite pustet. Das ist der richtige Moment, um den iPod aus dem Rucksack hervorzukramen, die Stöpsel ins Ohr zu setzen, und den Random-Modus zu starten. Derweil ich gespannt auf den ersten Klang warte, erinnere ich mich daran, wie perfekt es das letzte Mal war, als ich das tat, im November, beim Innehalten am Bürkliplatz, als mir das Gerät das melancholische Stück «Misses» von Girls in Hawaii schenkte, das mich glatt zu Tränen rührte. Diesmal aber – es dauert eine Zehntelsekunde, um dies festzustellen – passiert sozusagen das Gegenteil: Der Song heisst «Center of the Storm», es ist ein Drum’n’Bass-Track von Roni Size, gesungen von Rage-Against-the-Machine-Frontmann Zack de la Rocha, und er fegt mir durch die Sinne, wie jüngst Wintersturm «Burglind» durchs Mittelland fegte … drei Minuten halte ich’s aus, dann stoppe ich das musikalische Monster und laufe ohne Soundtrack zurück zur Bus-Station.
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