Mitunter gerät man auch im Tram ins Träumen. Wenn dann noch ein vergessen gegangener Buchstabe ganz neue Perspektiven eröffnet, kommt der Gedankenfluss so richtig in Fahrt. Vbzonline-Leser und Liedermacher Christof Brassel lässt uns mit einem Gastbeitrag daran teilhaben.
Manchmal reicht ein vertauschter, weggelassener oder hineingerutschter Buchstabe, und es eröffnet sich ein ganz neues Universum.
Hab‘ ich richtig gelesen? Da gibt es in einem Wettbewerb doch tatsächlich Tramferien zu zweit in der Karibik zu gewinnen. An so etwas haben Sie wohl nicht einmal im Tram gedacht. Tramferien, womöglich auf einer romantischen Traminsel, jenseits der touristischen Trampelpfade. Ihre Tramfrau beziehungsweise Ihr Trammann, wartet nur darauf, dass Ihr Wunschtram in Erfüllung geht. Aber vielleicht zieht es Sie eher zu den Tramsurfern nach Hawaii, zu den Tramfängern nach Australien oder zu den Tramtänzern nach Esalen, California? Wenn Sie dann an Ihrer Tramdestination, gewissermassen an Ihrer Endstation Sehnsucht, angekommen sind, dann stellen Sie dort vielleicht ernüchtert fest, dass Sie nicht an einer Tramküste, sondern in einem regelrechten Alptram gelandet sind, also beispielsweise im Zürcher-Tram der Nummer «11», das, weil es nach Rehalp fährt, logischerweise ein Alptram ist.
Aber die Realitätsverschiebung kann auch in umgekehrter Richtung erfolgen: Das geschieht, wenn ein Traum frühmorgens aus dem Traumdepot herausfährt und dann während des ganzen Traumfahrplans die Traumpassagiere an jeder Traumhaltestelle ein- und aussteigen lässt. Die Traumfahrkarten müssen allerdings vorher an einem Traumbilletautomaten gelöst werden. Und mitten im Traum kann dann unversehens ein Traumkontrolleur auftauchen: „Traumfahrscheine bitte vorweisen!“ Wer kein gültiges Traumticket hat, erhält eine Traumbusse. Schwarzträumen ist unfair. Doch einer solchen Busse kann man sich ganz einfach dadurch entziehen, dass man rechtzeitig aus dem Traum aufwacht. Bei Aufgewachten hat die Fahrscheinkontrolle das Nachsehen, es sei denn, man lande irgendwann wieder einmal im selben Traum.
Besonders verwirrend ist es im übrigen, wenn man im Traum einschläft, das heisst, man ist dann ja gewissermassen doppelt eingeschlafen. Man verpasst auf diese Weise also die richtige Traumhaltestelle, und bleibt somit im Traum bis zur Traumendstation. Womöglich träumt man dann via Traumschlaufe wieder die ganze Traumlinie rückwärts, bis man dann endlich vom Traumführer geweckt wird, oder sogar ungeweckt im Traumdepot landet, wo ein Traum neben dem anderen auf seinen Einsatz wartet, und man daher nur schwer wieder in die Realität zurückfindet.
«Wenn Sie in einer Traumgegend wohnen, dann haben Sie vielleicht Schlafstörungen, weil ein Traum nach dem anderen nachts in den Kurven quietscht.»
Mühsam ist es natürlich auch, wenn man atemlos auf die Traumstation rennt, und einem dort ein Traum gerade vor der Nase abfährt. Hat man dagegen den Traum gerade noch erwischt, dann nimmt man dort mehr oder weniger geduldig auch ein Traumgedränge in Kauf. Hauptsache, man ist rechtzeitig im Traum. Ärgerlich ist nur, wenn so ein Traum im Verkehr stecken bleibt, weil immer wieder ein Autofahrer die Traumspur blockiert. Genauso ärgerlich ist es, wenn die Lautsprecher im Traum zu laut eingestellt sind, sodass man vor Schreck vorzeitig aus dem Traum aufwacht. Und wenn Sie in einer Traumgegend wohnen, dann haben Sie vielleicht Schlafstörungen, weil ein Traum nach dem anderen nachts in den Kurven quietscht.
Wenn Sie in einen Traumanhänger eingestiegen sind, müssen Sie ausserdem jederzeit damit rechnen, dass ein begnadeter Traumgitarrist aus voller Kehle mit «La Paloma» oder sonst einer Traummelodie das ganze Traumpublikum beglückt und Sie im Anschluss an diesen Traumauftritt mit dem Hut zu einer Spende nötigt.
Und wenn Sie selber kurzfristigen Geldbedarf haben, dann können Sie, wie es Wien, die Stadt des Traumanalytikers Freud, vorgemacht hat, ihren ganzen Traumbestand an eine US-Finanzgesellschaft verkaufen und für den alltäglichen Traumbetrieb wieder zurückleasen. Traumleasing nennt man dies. Wenn Sie dann nachts von einem schlimmen Traum geplagt werden, dann machen Sie sich keine Sorgen: die schlimmen Träume sind gar nicht Ihre eigenen Träume, sie sind nur geleast. Und last but not least: Mit der Realität hat dies alles nichts, aber auch gar nichts zu tun. Denn wenn Sie unter quietschenden Geräuschen aufwachen, werden Sie erleichtert feststellen: es war alles nur ein Tram. Und wenn Sie so ein Tram ärgerlicherweise verpasst haben, umso besser; denn das verpasste Tram war ein Alptram.
Zur Person
Christof Brassel, geboren 1952, hat sein Büro in der Nähe des Idaplatzes und verfasst als Bahnpendler zwischen Stein am Rhein und Zürich alltagsphilosophische Lieder und Texte. Mehr Informationen und eine Auswahl an Liedern finden Sie unter christofbrassel.ch.
*Dieser Artikel wurde erstmals am 18.8.2020 veröffentlicht.