Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute berichtet Oli Dischoe alias «Pendolin». Der Zürcher Stadtmensch und bekennende ÖV-Fan ist derzeit in Budapest unterwegs, wo er für uns den lokalen öffentlichen Verkehr auf Herz und Nieren «testet».
Pendolin schreibt. Heute: «Darkroom»
Jetzt mal unter uns: Sie mögen es romantisch? So richtig kuschelig, nur im Kerzenschein, ohne elektrisches Licht? Schön. Ich nicht! Und das hat seinen Grund.
Zum Glück habe ich sie immer dabei. Nicht nur, wenn ich ins abgelegene Lappland oder in den Fernen Osten reise, sondern auch jetzt. Meine Stirnlampe. Dank ihr sitze ich nicht komplett im Dunkeln, sondern habe eine minimale Lichtquelle. Denn die Wohnung, die ich für meinen Budapest-Aufenthalt über AirBnB gebucht habe, heisst zwar «The Perfect Stay» (und sie ist wirklich sehr gut!). Aber die Ausstattung ist nicht ganz perfekt: Die in einer unteren Schublade gut versteckten Kerzen liessen sich anzünden, wenn es auch ein Feuerzeug gäbe – oder Zundhölzli. Aber nichts dergleichen. Und seit ich das Rauchen nach vielen Jahren erfolgreich aufgegeben habe, bin ich auch nicht mehr entsprechend ausgerüstet. Darum also: Stirnlampe.
So sitze ich nun da, auf dem Kanapé, die Lampe auf der Stirn, ein Buch in der Hand. Aber ich mag gar nicht so recht lesen. Denn immer wieder kommt mir die Frage in die Quere: «Liegt es an mir? Ist das halt Budapest? Oder ganz einfach Pech?». Denn bevor ich die stockdunkle Wohnung erreicht habe, hat es mich so richtig übel verschifft, schon zum dritten Mal innert kurzer Zeit. Klatschnass bis auf die Haut. Gratis-Dusche made in Hungary. Das viele Wasser ist auch in meinem Stadtbezirk in zahlreiche Keller eingedrungen. Bis auf weiteres fliesst alles andere, nur kein Strom mehr.
Draussen auf der Teréz Körút (Grosse Ringstrasse) steht ein Combino-Tram. Es fährt nicht mehr weiter. Aufgrund der spärlichen Notbeleuchtung erkenne ich von meinem Wohnungsfenster aus nur schwach die Umrisse einiger Passagiere im Tram. Sie hoffen wohl, dass der Regen bald mal nach lässt, oder das Tram doch noch weiterfährt.
Überhaupt scheinen die Budapester Verkehrsbetriebe BKV nicht auf so viel Regen vorbereitet zu sein. Im Minutentakt erscheinen Twittermeldungen, wonach nicht nur die Linien 4 und 6 eingestellt sind, sondern etwa ein Dutzend weitere ÖV-Verbindungen im Stadtgebiet. Ähnlich, wenn in Zürich zu viel Laub auf den Gleisen liegt, oder wenn der Winter ein erstes Mal richtig zuschlägt.
Ortsbezeichnungen mit ehemals sowjetischem Anstrich sind nicht mehr besonders «en vogue».
Hier im Stadtteil Pest scheint es nun vor allem an der Stromversorgung zu liegen. Auf der Budaer Seite steht das Wasser allerdings an einigen Stellen meterhoch. B. hat mir soeben einen Newslink geschickt, wonach da und dort sogar Strassen eingebrochen sind. Unsere Verabredung haben wir kurzfristig verschoben. Zu dunkel und zu nass ist es heute. Das Leben steht sowieso praktisch still. B.s Metro fährt gemäss Twitter-Meldung heute auch nicht mehr.
Online funktioniert die Information seitens BKV. Offline leider weniger, wie ich einige Tage vorher erfahren musste. Schon da starker Regen, schon da wurde ich klatschnass, als ich am Széll Kálmán Tér (früher Moskauer Platz, aber Ortsbezeichnungen mit ehemals sowjetischem Anstrich sind nicht mehr besonders «en vogue») vergeblich mein Anschlusstram gesucht habe.
Der Platz ist momentan ein riesiges Loch mit dazugehörigem Geröllhaufen. Die Pendler suchen zwischen provisorischen Bauabschrankungen und schlecht gestalteten Hinweistafeln ihren Weg zu Bus, Tram oder Metro. Trotz meiner Orts- und Ungarisch-Kenntnisse habe ich es nicht geschafft. Wobei, ich etwas korrigieren muss: Das Tram hatte zwar die gesuchte Nummer, aber es fuhr in die verkehrte Richtung. Das richtige Tram wäre 600 Meter entfernt, am anderen Ende der Riesenbaustelle, gefahren.
Darauf trinke ich nun einen. Oder mehrere. Ich lege das Buch weg. Dank Stirnlampe kann ich die verschiedenen ungarischen Schnäpse (Pálinka) auf meiner Theke voneinander unterscheiden. Geschmacklich gelingt mir das noch nicht so ganz. Bekanntlich macht ja Übung den Meister. Und ich übe viel diesen Sommer. Nicht nur im Dunkeln. Oder wenn es regnet.
Sonderkorrespondent Oli Dischoe alias Pendolin
Oli Dischoe ist diplomierter Journalist, zuletzt war er als Chefredaktor bei Radio 1 tätig. Seit 2012 verfasst er als «Pendolin» für das Intranet der VBZ regelmässig seine Alltagsgeschichten aus dem ÖV. Momentan ist «Pendolin» in Budapest unterwegs, er verbringt drei Monate in der ungarischen Hauptstadt.