Crescendo im Dreiertakt

Die Linie 3 vereint vom Zürichberg bis nach Albisrieden alle Kulturen, Lebensstile und Altersstufen – manchmal auch auf engstem Raum. Ein Psychogramm der wohl lebhaftesten blau-weissen Linie.

Um mal ganz unbescheiden in das Thema einzusteigen, ist die Zahl «3» an sich ja schon eine ganz fabelhafte Nummer. Unter den Tramlinien gibt es die «1» bekanntermassen nicht, also möchten wir – dem «Hier und Jetzt» geschuldet – darüber auch keine grossen Worte verlieren. Die «2» will niemand auf dem Rücken haben, denn wer auf dem zweiten Platz landet, ist der erste Verlierer – während man auf dem dritten Platz schon wieder froh ist, überhaupt noch auf dem Podestchen zu stehen. Aller guten Dinge sind drei – drei heilige Könige, drei Musketiere und drei Tage Bart. Aber genug davon, kommen wir zur Sache:

Die ersten drei Haltestellen der Linie 3 führen erst mal geradewegs bergab, aber natürlich nicht mit Karacho, sondern ganz gemach – schliesslich durchstreift das Tram ein altehrwürdiges Quartier am Zürichberg. Nicht nur von Hirslanden strömen die Fahrgäste zahlreich herbei, auch die Witiker wollen den Dreier, so sie nicht im Bus sitzenbleiben. Ein Pot-Pourri von Senioren, Jugendlichen und, vor allem, Werktätigen. Spätestens am Römerhof trippeln Pumps an robustem Schuhwerk und Nordic-Walking-Stöcken vorbei: Die Arbeitswilligen treffen auf jene, die in ihrer Auszeit ein bisschen Höhenluft schnuppern möchten und sich mit der Dolderbahn steil auf den Hügel hinauf tragen lassen.

Hottinger Archetypen

Am Hottingerplatz, wo die Kantonsschule einen Teil der Passagiere vom 3er abzieht, wird das Fahrzeug zum Kultur-Tram. Nicht unbedingt als Ausläufer des Kulturama am Hottingerplatz, nein: Das gutbürgerliche Quartier mit noblen Villen und Wohnhäusern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist durchwoben von Kunstgewerbe und Antiquariaten. Da, wo einst Literaten wie Rainer Maria Rilke im Lesezirkel Hottingen ein- und ausgingen. Die Anziehungskraft des Zürcher «Quartier Latin» auf die Bohème ist heute noch spürbar und spült rund ums Kunst- und das Schauspielhaus  – nicht nur, aber auch – zahlreiche Erschaffer und Geniesser der schönen Künste in den 3er. Hinzu zu zählen, oder in der Schnittmenge enthalten, sind Psychotherapeuten: Teil des kollektiven Unterbewussten dieses Quartiers bildet nämlich auch der 1916 von Carl-Gustav-Jung gegründete «Psychologische Club Zürich».

Zunehmende Turbulenzen bis zum Bermuda-Dreieck

Nach diesem schöngeistigen Ambiente trifft die Stimmung im «Drü» nun frontal auf den Konsum. Wer eben noch verträumt den Blick hoch zum Rechberg schweifen liess, findet sich zwischen Central und Löwenplatz tetrismässig platziert zwischen Einkaufstaschen aller Grössen wieder – an manchen Abenden jedenfalls. Päcklitram statt Päcklibus. Beim Bahnhofplatz rollen zusätzlich Koffer ein und aus, das Spiel steigt auf Level 2. Nichts desto trotz bleibt die Stimmung heiter; ohne Zweifel, Nummer Drei lebt.

Das Crescendo kulminiert, ab Sihlpost geht so richtig die Post ab: Neben den ausgelassen plaudernden jungen Damen in engen Leggings nimmt ein älterer Herr einen kräftigen Schluck aus der Bierdose. Derweil hält sich das heimkehrende Paar mit einer Hand an der Haltestange, mit der anderen an seinen Skiern fest und wischt mit dem Rucksack bei jeder Körperbewegung um ein Haar das Buch aus der Hand der dort sitzenden Mittvierzigerin. Die Luft wird allmählich dicker. Eine Verschnaufpause gibt’s am Stauffacher, wo sich ein beträchtlicher Teil der Fahrgäste eine Gasse durch die sich bereits vor der Türe stauenden Zusteigerinnen und Zusteiger bahnt. Trotz der Zufuhr von frischem Sauerstoff während der Umsteigerei umweht das Bezirksgebäude schliesslich ein Hauch von gesiebter Luft. Der 3er kann aber nichts dafür: Dort befindet sich nämlich das Zürcher Untersuchungsgefängnis.

An der Spitze des Bermuda-Dreiecks, Höhe Kalkbreite und spätestens beim Lochergut, hüpft ein Grossteil des Ausgehpublikums fröhlich aus dem Tram, um den Hotspots an der Langstrasse und beim Idaplatz entgegenzustreben. Platz für neue Szenen: Zwei Mütter mit ihren Kindern sind zugestiegen. Der Junge trägt seine Zapfenlocken unter einer Kippa, derweil seine grössere Schwester sichtlich fasziniert die kunstvoll geflochtenen Muster im krausen Haar der in bunte Gewänder gehüllten Mädchen auf dem Nebensitz bestaunt. Wie gesagt, der 3er ist ein Kultur-Tram, immer wieder, und wir lieben ihn für Bilder wie diese.

Weiterfahrt im Ruhepuls

Mit einem Paukenschlag legt sich am Albisriederplatz ein Schleier der Ruhe über das eben noch durchs Fahrzeug wabernde akustische Tohuwabohu. Das freut auch den Mann oder die Frau im Führerstand. Die Linie 3 ist nämlich – das muss auch einmal erwähnt werden – ihrer überschäumenden Lebendigkeit wegen anstrengend und darum beim Fahrpersonal nicht durchwegs beliebt. Die heterogene Menschenmenge, die an stark frequentierten Haltestellen ein-, aus- und vor allem kurz noch schnell vor dem Fahrzeug durchgeht, bringt die Trampilotinnen und -piloten – welche da pünktlich losfahren sollen – in die Bredouille. Hinzu kommt, dass die Route entlang der Ausgangsviertel vor allem zu später Stunde bisweilen die eine oder andere, nun ja, über Gebühr heitere Gesellschaft anlockt – mit den einschlägig bekannten Nebenwirkungen.

Im Ruhepuls geht es vorbei an den steinernen Mauern, welche die ewig Ruhenden von den Lebenden trennen. Eine Grabesmiene ist dennoch fehl am Platz, denn nach Hubertus legt sich das Tram wieder flott in die Kurve und steuert «Siemens» an: Morgens schwenken hier die Ingenieurinnen nach links, die Informatiker nach rechts – dem IT-Zentrum der Stadt Zürich entgegen –, alle anderen je nach Bedarf.

Es wäre der perfekte Ort, um sich gemütlich niederzulassen: das Endziel Albisrieden. Das Dörfchen fand erstmals im 9. Jahrhundert schriftliche Erwähnung und gesellte sich 1934 zu Zürich. Von seinem einstigen Charme hat es nichts verloren, noch immer finden sich im Dorfkern gemütliche Fachwerkhäuser. Das Tram der Linie 3 indes kann es sich hier nicht allzu bequem machen. Bald schon rückt sein Gspänli von hinten auf. Dann, eins, zwei, drei, macht es kehrt und fährt erst mal geradewegs bergab, aber natürlich nicht mit Karacho, sondern ganz gemach – schliesslich durchstreift das Tram ein altehrwürdiges Quartier.

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren