Der Samichlaus gilt als Mann, der den Kindern nicht nur Freude bringt, sondern auch Werte vermittelt. Allein eine Persönlichkeit mit Charakter gibt einen würdevollen Träger des roten Gewands ab. Per Fernschule lernt man das nicht: Der beste Lehrer für das, was wirklich zählt, ist das Leben – am allerbesten eines, das sich auf das Wesentliche beschränkt.
Hartnäckig hält sich die Mär, wonach er stets in Begleitung eines treuherzig blickenden Esels die Szenerie betritt. Natürlich, Zürcherinnen und Zürcher wissen es, setzt der Samichlaus mitnichten auf ein derart überholtes Transportmittel. In Tat und Wahrheit hat man ihn schon auf einer Harley gesichtet, meistens aber kurvt er im Tram durch die Stadt. Nun fallen Chläuse nicht vom Himmel und man überlässt ihnen das Steuer eines rot-güldenen Trams auch nicht einfach so, für ein paar Nüssli und ein Mandarinli. Nein, auch der Samichlaus beginnt erst mal ganz von vorn. Hier erzählen wir, wie Albert Lamprecht zum Symbol der Vorweihnachtszeit heranreifte.
«Wenn das Huhn ein Ei legt, kullert es bis zum Bach».
Bekanntlich liegt die Heimat des Samichlaus nicht an der Goldküste, sondern weit weg, an einem Ort, an dem die Dinge noch etwas schlichter sind. Da, wo ein waschechter Nikolaus herkommt, gibt es weder fliessend Wasser noch Strom, und ergo auch keine Trams. Dafür aber viele, viele Kinder. 68 Cousinen und Cousins hat er, denn damals – tief im Südtirol, im Passeiertal um genau zu sein – waren Familien mit 13 Kindern keine Seltenheit, im Gegenteil: Seine Mutter wuchs gar mit 15 Geschwistern auf. Die Familie Lamprecht dagegen war vergleichsweise klein, zehn Kinderfüsse stoben durch das Haus, so die Kleinen nicht gerade schliefen – zwei, drei davon in einem Bett, denn geheizt wurde nur in der Stube. Der kleine Albert, Sohn eines Bergbauern, und seine Geschwister gingen dem Vater früh zur Hand. Beim Heuen, oder beim Füttern der Kühe, Ziegen, Schafe, Schweine und Hühner – der Hanglage zum Trotz: «Wenn das Huhn ein Ei legt, kullert es bis zum Bach», pflegte seine Grossmutter zu sagen.
Selbstgemacht und lange haltbar
Der heilige St. Nikolas war den Kindern im Passeiertal nichts als ein Phantom, das man nur vom Hörensagen kannte. An solch einen Ort nämlich, abgelegen und umrundet von Wäldern und Bergen, verirrt sich kaum einer mit einem Sack voll Leckereien. So war ein Lebkuchen eine derart seltene Kostbarkeit, dass man diesen lange aufzubewahren pflegte und nur stückchenweise genoss. Auf den Tisch kam, was der Berg hergab: «Kühlschränke hatten wir nicht. In Grossmutters Küche war ein dreieinhalb Meter hohes Gewölbe verbaut, in dem sie den Speck räucherte. Frisches Brot gab es vier Mal im Jahr, das backte sie in einem drei Quadratmeter grossen Ofen. Danach wurden die Fladen getrocknet, indem man sie in ein Gestell – man muss sich das in etwa wie einen Vogelkäfig vorstellen – zwischen die Stäbe steckte. So blieb das Gebäck sehr lange haltbar.». Wo nur das Nötigste zur Verfügung steht, hilft man sich gegenseitig. Bezahlt wurde in der Regel mit dem, was man selber an Nahrung und Arbeitskraft anzubieten hatte.
Dieses konsumbefreite Leben sieht Lamprecht heute durchwegs positiv. «Man wird stark, wenn man so in der Natur aufwächst». Diese Natur hatte der kleine Albert täglich auf seinem Schulweg zu überwinden, eine dreiviertelstündige Wanderung über Stock und Stein. Die Freude daran ist ihm nicht verloren gegangen. Fragt man ihn heute nach seinen Lieblingsbeschäftigungen, steht das Wandern ganz oben auf der Liste. «Wir Kinder damals spielten viel im Freien, und es herrschte kein so grosser Druck in der Schule, wie das heute der Fall ist. Ja, wir waren frei».
Im Dienst der Bienen
Freiheit, Zusammenhalt und ein einfaches, nachhaltiges Leben. Lamprechts Schilderungen lassen seine natürliche Demut vor der Schönheit der Welt durchschimmern. So einer trägt nicht nur Sorge zu seinen Mitmenschen, sondern auch zur Welt, in der wir leben. Zum Beispiel zu den Bienen. Als der junge Lamprecht nach seinem Militärdienst in einem Sägewerk anheuerte (früher hiess es nämlich «Geld verdienen» – die Selbstverständlichkeit, eine Lehre absolvieren zu dürfen, ist ein Privileg der Neuzeit), kam er in Kontakt mit einem Imker. Der lebensbejahende Lamprecht war sofort begeistert, und so kauften sich die beiden einen Bienenstock, um ihn gemeinsam zu bewirtschaften. Auch als es ihn später in die Schweiz zog, hat er diese Leidenschaft nie aufgegeben. Heute steht sein Bienenstock in einem Schrebergarten. «Dazu musste ich einen Antrag bei Grün Stadt Zürich stellen, die waren erst mal skeptisch». Trotz der Arbeit, vor allem im Sommer mit dem Bau neuer Waben und der Aufzucht der Königin, blüht Lamprecht dabei regelrecht auf.
Die wichtigsten Grundregeln im Werden eines Samichlaus: Der Welt mit Freude, offen und neugierig gegenüber stehen, und auch mal die plüschbestückten Ärmel hochkrempeln und anzupacken. Diese Eigenschaften hatte der 24-jährige Lamprecht bereits schon in seinem (Jute)-Sack, als er in die Schweiz zog. «Kei Luscht», diese Worte führte er nicht im Wortschatz. Er ging da hin, wo es Arbeit gab: Zunächst nach Davos ins Gastgewerbe, wo er dank seinem handwerklichen Geschick reparieren durfte, was immer nötig war. Allein davon lässt sich schwerlich in Saus und Braus leben.
Die ganze Palette der VBZ-Welt
Der Gedanke an die Zukunft und an Familienplanung liess Lamprecht anno 1982 gegen die Pforten der VBZ klopfen. Er tauschte seinen Schlitten erst mal gegen alle möglichen Busse ein. Dank seiner Offenheit erkundete er die ganze Palette: Trolleybusse, Pedaler, die alten Saurerbusse, «das sind schöne Fahrzeuge», schwärmt er. Wenn Lamprecht spricht, zeigt er ein Lächeln, das von tief innen kommt – egal, ob es um Busse, Bienen oder Kinder geht. Nach zehn Jahren erweiterte er sein Repertoire und stieg ins Tram ein. Dieses war zunächst freilich auch nicht rot, sondern blau-weiss. Aber auch dort lernte er schnell und avancierte zum Mann für alle Arten von Fahrzeugen, vom Cargotram bis zu den rustikalen Oldtimern.
Der Himmel glitzert, und die Leute winken
Schliesslich, im Winter 2008, tauschte er den dunkelblauen Kittel gegen eine rote Kutte ein. «Das wollte ich schon immer», erinnert er sich. Bevor er selbst das Steuer übernahm, hatte der Vater zweier Kinder das Jelmoli Märli-Tram nur von aussen gesehen. Dann, wenn er jeweils im Dezember Sohn und Tochter in die Obhut seines Vorgängers gab. Ihm selbst war solch ein Vergnügen als Kind freilich nicht vergönnt. Ebensowenig hatte er Erfahrung als Samichlaus, auch privat nicht. «Am Anfang war ich etwas nervös», gesteht er, aber «ich kann gut mit Kindern umgehen». Die Nervosität legte sich genauso schnell wie bei den Kindern, die ja oft auch ein bisschen ein mulmiges Gefühl haben, wenn sie vor dem Mann mit dem langen Bart stehen. Schnell nämlich fängt der Zauber an zu wirken, «die Leute auf der Strasse winken, draussen glitzert die Weihnachtsbeleuchtung» – sagt’s, und wirkt ein bisschen wie der Junge, der er einst war – «und am Schluss der Fahrt gibt es das eine oder andere Sprüchlein für den Samichlaus. Ist nämlich der Bann erst gebrochen, und eins der Kinder beginnt damit, dann ziehen alle anderen nach, ja es kam auch schon vor, dass die Kinderschar kaum mehr aufhören wollte, ihre Sprüchlein zu rezitieren.».
Und so kommt es, dass der Mann, der früh lernte, was im Leben wirklich wichtig ist, heutzutage im Advent den Jüngsten in Zürich beim Einstieg ins Reich der Phantasie hilft, ihnen ein Stück glückliche Kindheit schenkt, und Teil einer Erinnerung wird, die sie auch als Erwachsene nie vergessen werden.
*Dieser Artikel wurde erstmals am 21.12.2017 veröffentlicht.