Peter Conrath bürgte für einen Freund – und verlor alles. Aus Freundschaft lernte er auch die Obdachlosigkeit kennen. Heute erzählt er auf einem Stadtrundgang des Vereins Surprise seine Geschichte, und wie man als Randständiger in Zürich am besten über die Runden kommt.
Titelbild: Verein Surprise
Die Gassenküche wirkt etwas verwaist. Nur ein kleines Grüppchen sitzt in einem der zwei kleinen Zimmern dieser ehemaligen Wohnung und hört Peter Conrath aufmerksam zu. Er weiss nämlich, wie man auf der Gasse überlebt. Es ist der Auftakt einer Stadtführung, oder, wie es unser Tourguide ausdrücken würde, «mir gönd echli uf d Loitsch.»
Wer an einer Stadtführung teilnimmt, erwartet in der Regel, mit historischen Häppchen gefüttert zu werden. Die Surprise-Stadtrundgänge gehen einen anderen Weg. Einen persönlicheren. Die Lebensgeschichte unseres Frontmanns ist nämlich Teil des Themas.
Ohnehin gibt es in der Gassenküche nicht nur Häppchen, sondern Linseneintopf etwa, oder Hörnli und Ghackets. Hier, im Speak-Out im Niederdorf, kochen Freiwillige für Obdachlose und andere Menschen, die in Armut leben. Gegründet wurde die Gassenküche in jener aufwühlenden Zeit um 1968, als die sogenannten Globus-Krawalle stattfanden – von jugendlichen Initianten, die auf konstruktive, friedliche Weise hätten aktiv werden wollen statt sich «d Grinde izschla», wie der 57-Jährige erzählt. Seit Januar 1994 wird die Küche städtisch subventioniert und gewann damit ein kulinarisches Update – von einer dünnen Suppe zu einer regelmässigen, vollwertigen Mahlzeit. Eine, die noch reichhaltiger ausfällt, wenn die «Krawattenheinis der UBS» zweimal im Monat den Kochlöffel schwingen (sprich Mitarbeitende der genannten Bank freiwillig kochen, und dann auch gerne mal etwas grosszügiger sind), wie Conrath in seiner geradlinigen Art zu erzählen weiss. Jetzt, während Corona, werden die Mahlzeiten als Take-Away herausgegeben. Für die Randständigen bedeutet dies, dass sie zwar keinen Hunger leiden, jedoch unter Umständen den Verzicht auf eine Pause oder gar einen Schlafplatz im Warmen und ein Quäntchen zwischenmenschliche Zuwendung in Kauf nehmen müssen.
Gefangen in der Schuldenspirale
Ursprünglich hat Surprise-Verkäufer Conrath Koch gelernt. Wegen eines Magengeschwürs musste er den geliebten Job jedoch schon früh aufgeben. Seither hat er bis hin zum Marroniverkäufer alle Arten von Tätigkeiten ausprobiert.
Unverschnörkelt, authentisch und frei von jeglichem Selbstmitleid erzählt er, der einst behütet aufwuchs («ich han e schöni Chindheit gha»), wie er wegen einer Bürgschaft für einen Freund finanziell ins Straucheln geriet. Durch den Privatkonkurs kündigte man ihm obendrein seinen Job als Securitas – nach zehn Dienstjahren. «Die Begründung: «Ich hätte stets Einblick, wo bei den Kunden das Geld herumliege». Conrath wehrte sich vergeblich, rappelte sich auf und machte sich mit einer Reinigungsfirma selbständig, bis ihn ein schwerer Unfall erneut in den Teufelskreis von Schulden und Lohnpfändung trieb – eine Taggeldversicherung hatte er nämlich nicht. Er arbeitete noch mehr, zahlte entsprechend mehr Steuern und wurde schliesslich vom Verein Surprise bei einer Schuldensanierung unterstützt. Es ist die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der gegen den Seegang kämpft, unter- und wieder auftaucht. Und es ist ein Krimi.
Beim Arbeitgeber Surprise heuerte Stehaufmännchen Conrath im Jahr 2008 an – dank Ruedi Kälin, den er ein Jahr zuvor am Würstli-Stand «Calypso» im Niederdorf kennengelernt hatte. Inmitten von Rauch und würzigen Düften machte Stammgast Kälin dem Grillmeister Conrath die Arbeitsbedingungen des Strassenmagazins schmackhaft und doppelte – als jener nicht gleich anbiss – mit der Bemerkung nach, er, der Conrath, «seg en fuule Siech», er arbeite ja schliesslich nur am Abend und könne locker morgens noch Surprise-Heftchen verkaufen. Mit diesem Spruch, gibt der durchaus geschäftige Tourguide unumwunden zu, habe ihn Kälin gepackt.
12 Jahre ist er nun schon mit im Boot. Die Stadtführungen gibt er seit sechs Jahren und kommt damit insgesamt auf ein Arbeitspensum von 35 bis 60 Stunden pro Woche. Was ihn besonders begeistert, sind die Präventionsprojekte mit Schulklassen. Dabei werden zumeist Hochschulen besucht, obschon Conrath die Primarschüler näher am Herz seien, wie er betont. Niemand sei nämlich ehrlicher und direkter als Kinder, schwärmt er – Eigenschaften, die ihm offenkundig sehr liegen.
Vier-Sterne-Hotel mit Asphalt-Bett oder Razzia-Appartement
Conrath ist nicht der einzige, der auf seinem Lebensfluss nicht im Luxusdampfer reist. Vielleicht kommt es aber darauf an, was man als Luxus betrachtet. Eine der «Haltestellen» seiner Tour trägt den Namen «Vier-Sterne-Hotel». Die so angepriesene Unterkunft entpuppt sich als kalter Platz unter den Bögen der Amtshäuser beim Werdmühleplatz. Hier lebte während vier Jahren ein Randständiger, der es geschafft habe, die Polizisten des nahegelegenen Wachpostens mit viel Charme und Überzeugungskraft als persönliche Briefträger zu gewinnen. Es ist nämlich durchaus nicht so, dass das harte Leben auf der Strasse mit grenzenloser Ungebundenheit einhergehen würde. Die Obdachlosen sind verpflichtet, eine Briefadresse zu nennen, unter der sie erreichbar sind.
Die Obdachlosigkeit kennt auch unser Stadtführer, wenngleich mehr oder weniger freiwillig: Er leistete Mitstreiter Ruedi Kälin, der auf der Strasse lebte, oft Gesellschaft, um die Freundschaft zu pflegen. Selber wohnte Conrath zu jener Zeit in einem Appartementhaus. Über die Hälfte der Mieter seien «Drögeler» oder Dealer gewesen, weswegen – fast wie eine ungeschriebene Hausregel – zwei bis drei Mal in der Woche eine Razzia stattgefunden habe. Das sei ihm manchmal auf den Wecker gegangen, berichtet er lakonisch, und auch deshalb sei er gerne mit Kälin auf der Gasse rumgehangen.
Allerdings, gibt er zu, nur in den wärmeren Jahreszeiten. Einmal, als er nämlich im Winter draussen schlief, habe er sich richtiggehend «den Allerwertesten abgefroren». Zumindest hatte er eine Wahl. Im Jahr 2020 können sich wegen Corona viele nicht aussuchen, ob sie sich an ein Plätzchen in der Wärme flüchten wollen. Auch der Zusammenhalt untereinander wird erschwert. Zu den Platzverweisen, die es vorher schon gab, kommt jetzt, dass einerseits viele Einrichtungen geschlossen sind und man sich andererseits draussen auch nicht mehr treffen darf.
Wer sagt, wo der Schuh drückt, bekommt Hilfe
Wer in der Schweiz offen und ehrlich sei und sage, wo der Schuh drücke, bekomme auch Hilfe, ist Conrath felsenfest überzeugt. Er weiss, wovon er spricht. Vor drei Jahren – just an seinem Geburtstag – klopfte das Glück an seine Türe, oder vielmehr wählte es seine Nummer. Eine ehemalige Bekannte war am Apparat und erkundigte sich, wie hoch sein Schuldenberg aktuell sei. Sie habe, erklärte sie dem verdutzten «Surprise»-Verkäufer, nämlich eine Erbschaft gemacht, und wolle ihn unterstützen. Und so lösten sich zwei Drittel von Conraths Schulden über Nacht in Nichts auf.
Hilfe gibt es auch in den diversen sozialen Institutionen, die Thema der Führung sind. Etwa im Caritas-Laden in der Langstrasse, welcher Lebensmittel aus Überproduktion anbietet beziehungsweise solche, die Firmen aus einer karitativen Motivation günstiger abgeben. Wenn es einen Ort gibt, wo man lernt, Food-Waste zu vermeiden, dann auf der Strasse. Auch dem ehemaligen Comestibles-Verkäufer Conrath ist die Verschwendung ein Dorn im Auge. Wenn man Lebensmittel esse, die fünf Tage über dem Datum sind, verderbe man sich schon nicht gleich den Magen, so seine Faustregel. «Düend e chli mit Verstand furtrüehre», legt er uns ans Herz.
Ein Leitfaden für den Ernstfall
Eine Deklamation über das harte Leben auf der Strasse ist die Führung trotz allem nicht. Vielmehr könnte sie als Leitfaden für den Ernstfall dienen, vorgetragen von einem urbanen Survival-Experten. Wir erfahren, wo es Frühstück gibt, wann man auf Platz sein muss, wenn man nicht nur Brot mit Konfi, sondern auch Wurst und Käse möchte, wo es einen einfachen Zmittag und wo die Luxusvariante für vier Franken gibt. Wir werden darüber aufgeklärt, wo geduscht werden kann und dass die Zürcher WC’s besser seien als jene der Basler, die – also die Toiletten –, entweder nicht sauber oder kaputt seien. Bis auf jene vom McClean beim Bahnhof, welche kostenlos benützen darf, wer einen sogenannten «Piss Pass» besitzt.
Aber zurück nach Zürich. Auch Kleider werden gratis abgegeben. Pro bezogenes Kleidungsstück muss eins zurückgeben werden. Es habe nämlich da einen «Spezialisten» gegeben, der pro Woche 20 bis 30 Kleidungsstücke gehamstert habe. So lange jedenfalls, bis eines Tages der Sozialarbeiter feststellte, dass «de Ander frisch fröhlich am Flohmi gstande isch und sini Chleider vertschuttet hätt», wie Conrath aufgeräumt ausplaudert.
Eine unvergessliche Reise
Die Führung endet in der evangelisch-methodistischen Kirche zwischen Helvetiaplatz und Stauffacher. Dort bietet der Verein «Netz 4» Obdach, Begleitung und Lebenshilfe oder lädt zu einem dampfenden Teller Spaghetti ein. Auch ein Treffpunkt mit Nähcafé gehört dazu. Im schmucklosen, schlichten Kirchenraum zieht Conrath ein Resumee über sein Leben. Wo würde er heute stehen, hätte er nicht immer wieder in der Kreide gestanden? Auf jeden Fall, davon ist er überzeugt, hätte er sicher einmal im Jahr Ferien.
Und dann fällt ihm zum Abschluss noch die Geschichte einer Klassenfahrt nach Amerika ein. Damals, in der fünften Schulklasse, habe freilich niemand Geld für eine Klassenfahrt gehabt. Also war die Abmachung, man werde dies nachholen, sobald man die 50 erreicht habe. Und tatsächlich, pünktlich zum 49sten Altersjahr, habe ein ehemaliges «Schuelgspänli», der Hans-Peter – seines Zeichens Inhaber eines Reisebüros – zur Amerikareise geladen. Peter Conrath sagte ab. Doch der einstige Mitschüler liess nicht locker, bis Conrath gestand, er könne es sich schlicht nicht leisten. Worauf der andere meinte, er habe so viele Meilen zugute, dann lade er ihn eben ein. Niemals hätte er erwartet, dass ihn eines Tages einfach jemand nach Amerika einlade, so unser Tourguide, und während er das sagt, merkt man ihm, dass er noch heute vor Freude gerührt ist. So endet die Führung mit der stillen Einsicht, dass Glück nirgends deutlicher gespürt wird als dort, wo es nicht selbstverständlich ist.
Stadtrundgänge des Vereins Surprise
Der Verein Surprise bietet verschiedene Stadtführungen durch Zürich mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten an, die von Betroffenen selber durchgeführt werden. Die Führungen werden Corona-konform und mit Maskenpflicht abgehalten. Mehr Informationen über die verschiedenen Touren, kommende Daten und die Stadtführer erhalten Sie auf der Website des Vereins Surprise.