Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Heute: Die Buslinie 72.
Ein Linienpsychogramm der Buslinie 72 soll ich machen. Ok, kein Problem! Aber wie macht man das? Bin weder Freud noch Hegel noch Lacan und ein Psychologiestudium hab ich auch nicht. Also lass ich die Psychoanalyse aussen vor und lern den 72er ganz neutral und auf Augenhöhe kennen. Bin ja als 76er nahe dran – vom Jahrgang zumindest. So mach mich auf den Weg zum Schiffbau. Steige die Treppe hoch zur Haltestelle und da kommt auch schon der Bus.
Als Einziger steig ich hier ein in Richtung Milchbuck. Der Bus ist voll, der Bus ist laut und die Fahrgäste bunt gemischt. Es bleibt mir nichts anderes übrig als zu stehen. Er macht es mir also nicht leicht, der 72er. Ich muss mir seine Gunst zuerst erkämpfen. Zumindest bis zur nächsten Haltestelle. Da setze ich mich in die hinterste Reihe ganz rechts. Instinktiv, wie früher in der Schule. Ich schliesse die Augen und lass alles auf mich wirken.
Ein sympathischer Kämpfer
Riechen tut es nach Gummi und irgendwie fein nach Banane. Keine Ahnung wieso, aber es tuts. Im Ohr landet polylinguistisches Gebrabbel und das laute Rauschen der Lüftung. Fast wie am Meer, denk ich mir. Was ich auf den ersten Blick sagen kann: Der Kerl ist ein harter Arbeiter. Er kämpft sich mit vollem Einsatz den Stutz am Rosengarten hoch. Immer wieder ausgebremst von Baustellen, Autos oder der nächsten Haltestelle. Doch er gibt nicht auf. Irgendwie wie Rocky Balboa. Da kommt mir eine Idee. Wieso nicht eine Playlist erstellen, die die Linie 72 akustisch abbildet? Cool, so mach ich es. Den ersten Song hätten wir ja schon: Gone Fly Now – Bill Conti
Ein Freund, wenn man ihn braucht
Mittlerweile ist der Bus am Bucheggplatz angekommen und die meisten Passagiere steigen aus. Diejenigen, die drin bleiben, schaue ich mir nun mal genauer an. Da sind drei somalische Jungs, die sich auf dem Handy gegenseitig etwas zeigen. Ob jugendfrei oder nicht entzieht sich meiner Kenntnis. Dann ist da ein hippes Girl mit Velo. Sie war wohl zu müde um den Rosengarten hoch zu radeln. In solchen Momenten ist es gut, einen Kumpel wie den 72er zu haben. Und dann wäre da noch der ergraute, vom Leben gezeichnete Rocker schräg vor mir, an dessen Schlüsselbund viele kleine Plüschtiere hängen. Die Plüschtiere, die man an den Schiessbuden am Knabenschiessen als Trostpreise bekommt. Hier spenden sie dem Halter sicher Trost. Da ist Song 2 auch klar: With A Little Help From My Friends – Joe Cocker
Ein multikultureller Typ
Am Milchbuck leert sich der Bus, übrig bleiben der Buschauffeur und ich. Ein intimer Moment, in dem man die Narben und Kratzer sieht, die der 72er auf seiner Route abbekommt. Heavy Duty. Da liegt so einiges rum. Auch eine leicht braune Bananenschale zwischen den Sitzen vor mir. Immerhin weiss ich jetzt, dass meine Nase noch funktioniert. Lange hält die Intimität aber nicht und es steigen die ersten Fahrgäste zu. Eine junge Frau mit Hut, eine afrikanische Familie, ein älteres Ehepaar und ein Hipster mit seiner streng wirkenden und Zeitung lesenden Mutter. Ein bunter Mix an Menschen, die ohne Probleme miteinander unterwegs sind. Integration auf kleinstem Raum. Ein schönes Bild. Er ist also auch völkerverbindend, unser 72er. Hierfür hat er sich den dritten Song so richtig verdient: Imagine – John Lennon
Ein heisser Kerl
29 Minuten bis ins Morgental zeigt die Fahrgastinfo an. Mir bleiben also noch 20 Haltestellen, um das Wesen der Linie 72 einzufangen. Weiter gehts! Nach dem Bucheggplatz geht’s wieder bergab und vorbei an dichten Autokolonnen. Cool meistert das unser 72er. Erst an der Haltestelle Bahnhof Hardbrücke wird’s richtig eng. Wie aus dem Nichts wirkt der Bus vollgestopft. Studenten, Banker, IT-Nerds – alles will in den Bus, als ob es keinen Nächsten gäbe. Und wieder steigt mir etwas Fruchtiges in die Nase. Es müssen frisch gewaschene Haare sein. Ein sehr angenehmes Shampoo. Die Freude wirkt aber nicht lange und wird schnell übertönt. Aus dem coolen Kerl wird ein heisser, stickiger Bus. Eng wie in einer Sardinendose und heiss wie in den Tropen. Was mich sogleich zu Song 4 inspiriert: Hot In Herre – Nelly
Ein starker Bruder
Zum Glück ist es nicht weit bis zum Albisriederplatz, wo sich die Menschenmenge in Luft auflöst. Weg ist die Hektik und der laute Lärmpegel. Fasziniert höre ich zwei Inderinnen zu, die sich viel zu erzählen haben. Ihr Lachen steckt an. Egal woher, egal ob von der Arbeit, vom Friedhof oder vom Einkauf; für den 72er sind sie alle gleich, denk ich mir, als wir an der Schmiede Wiedikon Halt machen. Und wirklich, der Mix wird noch bunter. Asien, Afrika, Balkan, Südamerika, sogar ein Walliser ist dabei. Er telefoniert mit seiner Mutter. Als wir beim Sihlcity stoppen wird’s eng, als die Leute mit ihren Einkaufs-Trophäen zusteigen. Doch Bruder 72 lässt sich nicht runterkriegen. Da war auch klar, was Song Nr. 5 sein muss: He Ain’t Heavy He’s My Brother – The Hollies
«Aber das passt
zur Linie 72, ist sie doch
mehr Sein als Schein.»
Ein harter Arbeiter
Über den Waffenplatz geht’s nach Brunau/Mutschellenstrasse, wo die letzte Person, die mich seit dem Milchbuck begleitet, aussteigt. Fast vertraut kommt sie mir vor, als sie aussen vorbeiläuft. Kurz nach der Thujastrasse wird aus dem 72er ein Kurvenkünstler. Die abfallende S-Kurve an der Muggenbühlstrasse fordert Mensch und Maschine. Rallye-Feeling kommt auf. Langsam merkt man, dass es Richtung Endhaltestelle zugeht. Der Bus leert sich Halt für Halt. Und bei der Haltestelle Besenrainstrasse hab ich Premiere. Da war ich noch nie im Leben! Der 72er zeigt mir also auch noch seine Geheimnisse. Ein toller Typ. Und gerade als ich ihn so richtig ins Herz geschlossen habe, sind wir da: Morgental. Wahrscheinlich die unspektakulärste und schrägste Endhaltestelle, die es gibt. Aber das passt zur Linie 72, ist sie doch mehr Sein als Schein. Ein harter Arbeiter, der den Norden mit dem Westen und dem Süden verbindet. Und mit welchem Song soll ich dem jetzt gerecht werden? Ich habs: Crosstown Traffic – Jimi Hendrix
Über die Linie 72
Streckenlänge: 9112m (Richtung Morgental) / 9188m (Richtung Milchbuck) Anzahl Haltestellen: 21 (Richtung Morgental) / 22 (Richtung Milchbuck) Lieblingsplatz entlang der Linie: Fritschiwiese Häufigste Berufe der Fahrgäste (Vermutung): Studenten Passender Liniensong: Crosstown Traffic – Jimi Hendrix
Haltestellen-Liste oder aktuelle Fahrpläne zur Linie 72 finden Sie hier
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