Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Buslinie 89.
Nachdem die Schreibende kürzlich vom Letzigrund an die Peripherie nahe Frankental gezogen war, fühlte sie sich – zugegebenermassen mehr einem Gefühl als der Realität geschuldet – an einen Ort katapultiert, von dem man nur mit einem erheblichen zeitlichen Aufwand den Weg zurück in das pulsierende Stadtleben findet. Eine Brücke in die Urbanität oder zumindest zum vormaligen Ausgangspunkt beim Hubertus war aber rasch gefunden: Die Buslinie 89.
Die Versuchung ist zunächst gross, die 89 unter der eingangs genannten Prämisse als «Linie der Freiheit» zu rühmen. In Tat und Wahrheit handelt es sich aber vielmehr um eine familienfreundliche Linie. Von den Hängen rund ums Frankental über das noch recht junge Freilager-Areal bis zu den Genossenschaften am Friesenberg: Wohngebiet, soweit das Auge reicht.
Sauerstoffoasen und Shoppingtempel
Am oberen Ende der Linie, beim Heizenholz, wird allenfalls an nahegelegenen Grillstellen Holz verheizt. An der Endhaltestelle mit dem Namen eines Brennmaterials in rudimentärem Deutsch atmet der Chauffeur unseres Busses würzige Waldluft ein, ehe er wenige Minuten später (im Winter) dem Kreischen der Möwen über der Limmat und (im Sommer) dem Kreischen der Kinder auf der Werdinsel (an der Haltestelle «Tüffenwies», für ortsunkundige Leserinnen und Leser) lauscht. Auch am anderen Pol der Linie muss auf ein Naherholungsgebiet nicht verzichtet werden. Der Eingang dazu findet sich beim Strassenverkehrsamt am Fusse des Üetlibergs.
Sie werden nun möglicherweise insistieren, das Ende der Linie sei gar nicht beim Strassenverkehrsamt, sondern heisse «Sihlcity». Richtig. Aber auch dieser Konsumtempel und sein kleinerer Bruder Brunaupark finden eine Entsprechung in der entgegengesetzten Richtung, nämlich beim Letzipark. Ein kleiner Gedankensprung sei an dieser Stelle gestattet: Wieso enden eigentlich so viele Einkaufszentren mit dem Wörtchen «-park», wo dort doch nichts wächst, ausser dem Umsatz?
Grünere Parks finden Sie, so Ihnen die bereits genannten Naherholungsgebiete nicht genügen, entlang der Linie 89 noch mehr: Allen voran die Allmend bei der Saalsporthalle, aber auch kleinere, versteckte Oasen laden dazu ein, fröhlich über das Gras zu hüpfen, etwa auf der Känguruhwiese beim Schweighof, rund um den Spielplatz «Im Gut» (der Name ist Programm) oder beim Heiligfeldpark, der sich übrigens aufgrund seiner Beliebtheit bei Fussballfans und Anhängern weiterer Ballspiele eher weniger für die Kontemplation eignet.
Apropos Erholung: Dass die Linie 89 eher geruhsam daherkommt, als dass sie auf die Bedürfnisse eines unsteten Lebenswandels ausgerichtet wäre, beweist auch ihr Fahrtakt. Am Wochenende zottelt der Bus viertelstündlich los, ab Altstetten nach Heizenholz leistet er sich diese Gemütlichkeit auch unter der Woche. Auf diesem Abschnitt zieht sich das Gefährt abends um 20.30 Uhr frühzeitig eine metaphorische Schlafmütze über und trollt sich (obschon eigentlich kein Trolleybus) ins Depot, wie das braver Quartiere Busse so tun. Dafür findet man im 89er eigentlich immer problemlos einen Sitzplatz, wobei nicht klar ist, ob das so bleibt, nachdem jetzt hier bekannt wird, was für eine famose Verbindung die Linie bietet.
Wir haben also im und entlang des Busses frische Luft zur Genüge. Dazu kommen Einkaufsgelegenheiten für jeden Bedarf. Entlang der 27 Haltestellen befinden sich rund doppelt so viele Schulen, Kindergärten und –krippen. Mit einem Satz: Rund um die Linie 89 gibt es alles, was eine familienfreundliche Umgebung ausmacht. Aber auch andere essenzielle Dienste reihen sich wie Perlen an der Strecke unserer Buslinie auf:
- Beim Tüffenwies sorgt die Wasserversorgung – wie es die Bezeichnung vermuten lässt – für Wasser.
- Hinter der Flurstrasse pulsiert das Herz der VBZ: Dort liegt quasi die Wiege des 89gi.
- Beim Hubertus setzt die Stadtgärtnerei den Samen für ein grünes Zürich.
- Auf dem Friedhof Sihlfeld gedenken wir unserer Liebsten, die nicht mehr sind.
- Ab der Schaufelbergerstrasse ist im Notfall auch das Triemli nicht mehr weit.
Quod erat demonstrandum: Die Linie 89 ist systemrelevant! Was nicht heissen soll, dass die Strecke nicht auch Vergnügen und Zerstreuung böte.
Punkto Unterhaltung ins Schwarze getroffen
Unweit vom Rütihof hämmern, nebst allfälligen lokalen Spechten, auch die Kinder. Hier, auf dem Bauspielplatz Rütihütten, können sie nämlich ihre eigenen Bretterbuden bauen. In echt, mit Nägeln, anstatt virtuell auf dem iPad. Für weitere sinnvolle Zerstreuung sorgen über die Strecke verteilt vier Gemeinschaftszentren, namentlich Höngg-Rütihof, Grünau, Loogarten und Heuried. Dazu kommen ebenso viele Freibäder, das Heuried, der Letzigraben, das Freibad Höngg und «Zwischen den Hölzern». Letzteres ist kein Hinweis für eine Schnitzeljagd, sondern der Name der Badi.
Wer etwas erleben will entlang der Linie 89, muss also keinen Handstand machen, aber er kann. Das Sahnehäubchen, quasi der doppelte Salto für die erlebnishungrigen Fahrgäste unseres Busses ist nämlich das Zirkusquartier bei der Flurstrasse, wo von Jonglieren bis Akrobatik alles angeboten wird – zum selber Lernen, nicht bloss zum Gucken. Kommendes Wochenende hätte dort übrigens ein Clownerie-Workshop stattfinden sollen. Trauer und Gram darüber, dass es einstweilen nicht soweit kommt, ist trotzdem fehl am Platz. Immerhin lautet der Untertitel besagter Veranstaltung «Die Freude am lustvollen Scheitern».
Aber genug der Abschweifungen, zurück auf Kurs 89. Das Beste haben wir uns für das Finale aufgehoben. Im 89er-Bus nämlich reiten Jahr für Jahr Scharen von Familien zum selben Ziel. Die einen der Bratwurst wegen, die anderen, um kopfüber durch die Lüfte geschleudert zu werden, die dritten, um als Schützenkönigin oder –könig das «grösste Zürcher Volksfäscht» zu verlassen. Die Rede ist natürlich vom Zürcher Knabenschiessen – das offiziell übrigens seit 1889 existiert. Ob unserem Bus möglicherweise wegen seiner ehrenvollen Aufgabe als «Hof-Transporteur» zur Zürcher Tradition die entsprechende Jahreszahl des 19. Jahrhunderts verliehen wurde, ist nicht überliefert.