«Gesundheitsförderung wirkt»

Unsere Lebensqualität verbessert sich stetig und unterstützt uns bei einem langen Leben. Doch der Wohlstand hat auch eine gesundheitliche Kehrseite. Thomas Mattig, Direktor der Gesundheitsförderung Schweiz, engagiert sich für eine gesündere Schweiz und erzählt uns, was ihn und sein Team bewegen.

Haben Sie Ihre 10’000 Schritte heute bereits getan? So viele sollen es angeblich sein, um gesund zu bleiben. Einer, bei dem jeder Schritt zählt, ist Prof. Dr. Thomas Mattig. Als Direktor der Gesundheitsförderung Schweiz ist der zweifache Familienvater seit zwölf Jahren gelassen, aber bestimmt für ein gesünderes Land unterwegs. Kein einfaches Unterfangen, wenn man bedenkt, welch unterschiedliche Facetten dieses Thema zu bieten hat. Im Interview verrät uns der musikalische und sportliche Jurist, wie er seinen Auftrag erfüllt.

Herr Mattig, wie steht es eigentlich um die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung?
Erfreulicherweise bezeichnet die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut. Gleichzeitig gibt es aber je nach Altersklasse einen hohen Anteil an Menschen mit chronischen Gesundheitsproblemen. Dazu gehören körperliche und psychische Beschwerden. Es besteht also nach wie vor Handlungsbedarf bei der Gesundheitsförderung und Prävention.

Welche gesundheitliche Themen stehen aus Ihrer Sicht besonders im Fokus? Wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert?

Heute leben die Menschen in unserer Gesellschaft doppelt so lange als vor hundert Jahren. Unsere Lebensqualität hat sich verbessert, ebenso unser Lebensstil und die Arbeitsbedingungen. Der Wohlstand hat aber auch eine Kehrseite. Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung leidet an nicht übertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen oder Erkrankungen des Bewegungsapparates. Aufgrund der demographischen Entwicklung wird sich diese Problematik verschärfen. Dem müssen wir entgegenwirken.

Gleichzeitig bringt die digitale Transformation neue gesundheitliche Herausforderungen mit sich, zum Beispiel im Berufsleben. Bereits heute fühlen sich rund ein Drittel der Angestellten gestresst. Die Digitalisierung, die eine Flexibilisierung der Arbeitsmodelle ermöglicht, könnte die Situation weiter verschlechtern. Zum Beispiel, wenn die mangelnde Abgrenzung von Privat- und Berufsleben zum gesundheitlichen Problem wird.

Jeder Mensch ist anderen Einflüssen ausgesetzt. Gibt es gesundheitliche Unterschiede zwischen Leuten, die in der Stadt oder auf dem Land leben?

Unterschiede in der Gesundheit von Menschen sind auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. So können – müssen aber nicht – Alter, Bildung, Einkommen, soziale Herkunft oder Migrationshintergrund beim Gesundheitszustand und -verhalten eine Rolle spielen. Und auch der Wohnort kann tatsächlich einen Einfluss haben. Soziale Ungleichheiten zum Beispiel können durch eine gute soziale Durchmischung innerhalb eines Quartiers abgeschwächt werden. Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass für Gesundheitszustand und -verhalten die gesundheitliche Chancengleichheit eine wichtige Rolle spielt. Mit anderen Worten: Allen Menschen muss ein einfacher Zugang zu Informationen und Angeboten ermöglicht werden, um ihre Gesundheit autonom weiterzuentwickeln.

Genau hier kommt die Aufgabe der Gesundheitsförderung Schweiz ins Spiel. Jede Person in der Schweiz unterstützt die Stiftung mit einem jährlichen Beitrag von CHF 4.80, welcher über die Krankenversicherungen abgerechnet wird. Wie setzen Sie und Ihr Team diese Gelder ein?

Mit dem solidarischen Beitrag trägt jede und jeder zur Gesundheit in der Schweiz bei und kann selbst von gesundheitsfördernden Angeboten profitieren. Ein Teil der Beiträge fliesst in kantonale Aktionsprogramme (KAP). Hier realisieren wir gemeinsam mit den Kantonen Projekte in den Themen Ernährung, Bewegung und psychische Gesundheit. Der Fokus liegt auf den Zielgruppen Kinder, Jugendliche und ältere Menschen sowie ihre Bezugspersonen. Ein weiteres Aktionsfeld sind Massnahmen im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Dazu gehören zum Beispiel die Angebote mit dem Qualitätsstandard Friendly Work Space. Seit kurzen engagieren wir uns ausserdem für die Prävention in der Gesundheitsversorgung und fördern hierbei innovative Projekte. Indem Patientinnen und Patienten über einen gesunden Lebensstil informiert werden, kann das Auftreten von nicht übertragbaren oder psychischen Krankheiten vermindert werden.

Prof. Dr. Thomas Mattig unterwegs für die Gesundheit der Schweiz. Foto: © Philipp Zinniker

Wo liegt innerhalb dieser Schwerpunkte der Fokus?

Zum Beispiel bei den Kampagnen zur Förderung der psychischen Gesundheit. Über die beiden Online-Plattformen Wie geht’s Dir? und santepsy.ch werden Mittel und Wege aufgezeigt, wie die eigenen Ressourcen gestärkt werden können, um kritische Lebenssituationen besser zu bewältigen. Mit einer anderen Online-Kampagne gehen wir das Problem von Schlafstörungen an. Rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung ist hiervon betroffen. Zudem unterstützen wir kantonale Projekte, die das unmittelbare Umfeld von Kindern in belasteten Familien ansprechen. So sollen schwierige Startbedingungen aufgefangen und den Kindern eine möglichst ungestörte Entwicklung ermöglicht werden. Im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements konzentrieren wir uns auf die Weiterentwicklung unseres bewährten Tools Friendly Work Space Job-Stress-Analysis für bestimmte Berufsfelder wie die Langzeitpflege oder Lehrpersonen. Im Projekt Friendly Work Space Apprentice wollen wir mithilfe einer sich in Entwicklung befindenden App die psychische Gesundheit von Jugendlichen im betrieblichen Umfeld fördern.

Diese Beispiele zeigen, wie vielseitig die Ansätze für eine umsichtige Gesundheitsförderung sind. Haben Sie persönliche Herzensprojekte?

Nicht unbedingt. Was mir am Herzen liegt, ist zu vermitteln, dass Gesundheitsförderung wirkt und einen Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen leistet. Das Gesundheitswesen ist immer noch auf die Symptombekämpfung fokussiert. Immer mehr Mittel fliessen in die Krankheitsbekämpfung, ohne dass die Bevölkerung weniger krank ist. Mit mehr Gesundheitsförderung und Prävention könnten diesbezüglich wohl bessere Resultate erzielt werden.

«Das Wohlbefinden der Belegschaft ist wichtiger als die Qualität des Gesundheitssystems.»

In Ihrem Buch «Healthy Economy» machen Sie darauf aufmerksam, dass die Wirtschaft einen Einfluss auf die Gesundheit hat. Diese hänge weit mehr von den täglichen Lebensbedingungen als von der Qualität des Gesundheitswesens ab. Herr Mattig, was meinen Sie mit diesem Statement konkret?

Für die Antwort muss ich etwas ausholen. Die Erwerbstätigkeit ist für die meisten Menschen ein wichtiger Bestandteil ihres täglichen Lebens. Sie beeinflusst das Wohlbefinden und damit die Gesundheit. Deshalb trägt der Arbeitgeber eine Mitverantwortung für die Gesundheit seiner Mitarbeitenden. Er hat sogar ein wirtschaftliches Interesse, deren Wohlbefinden zu fördern. Zum Beispiel durch eine wertschätzende Unternehmensführung, bei der der Mensch seine Arbeit versteht, einen Sinn darin sieht und sich entfalten kann. Ist dies der Fall, steigt die Leistungsbereitschaft und die Bindung ans Unternehmen. Dies wiederum steigert die Effizienz und senkt Kosten. Mit anderen Worten, eine Win-Win-Situation.

Blicken wir auf die heutige Wirtschaft, wird Erfolg mit mengenmässigem Wachstum gleichgesetzt. Es geht um Maximierung, nicht darum, das Optimale für ein Unternehmen zu erreichen. In einer «Healthy Economy», einer gesunden Wirtschaft, ist das oberste Ziel des Wirtschaftens, die Lebensgrundlagen zu erhalten und die Lebensqualität zu steigern. Dafür ist das Wohlbefinden der Belegschaft wichtiger als die Qualität des Gesundheitssystems. Dieses kommt erst zum Tragen, wenn man bereits krank ist.

Wie steht es denn um das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) in Schweizer Unternehmen?

Unsere schweizweite Befragung bei rund 800 Betrieben in den Sektoren Industrie und Dienstleistung ergab ein positives Bild. Demnach setzen 71 % der Schweizer Betriebe bereits BGM-Massnahmen um. Potenzial besteht bei der Umsetzung einer BGM-Strategie und der betrieblichen Gesundheitsförderung, die die gesundheitsrelevanten Belastungen senkt und die Ressourcen der Mitarbeitenden stärkt. Erfreulich ist, dass Betriebe freiwillig in BGM investieren und dies zukünftig weiter tun, da ihnen das Wohlbefinden der Mitarbeitenden wichtig ist.

Welche Aufgaben sind aus Ihrer Sicht unerlässlich um ein gesundes Arbeitsumfeld zu bieten?

Im Zentrum der Überlegungen sollte stehen, dass systematisches Vorbeugen sinnvoller und kostengünstiger ist, als mit Einzelmassnahmen zu arbeiten. Diese können die Kosten für Krankheit, Unfall, Fluktuation und Leistungseinschränkungen nicht reduzieren. Wer am Anfang eines BGM-Projektes steht, sollte in Zusammenarbeit mit allen Mitarbeitenden in Gesprächen und Workshops die Unterstützung und Motivation für die spätere Umsetzung gewinnen. Dies gilt einerseits für die Führungskräfte, die die nachhaltige Verankerung einer gesundheitsförderlichen Kultur massgeblich beeinflussen. Andererseits sind auch die Mitarbeitenden motivierter, eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur mit zu leben, wenn sie frühzeitig einbezogen werden.

«Eine positive Einstellung zum eigenen Körper ist die Voraussetzung für ein zufriedenes und
gesundes Leben.»

Mitsprache und Partizipation als unabdingbare Erfolgsfaktoren für ein gesundheitsförderndes Unternehmen. Wo aber liegen aus Ihrer Optik die Grenzen zum eigenverantwortlichen Handeln jedes Einzelnen?

Für den Betrieb ist es wichtig, die Wechselwirkung zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit im Auge zu behalten. Wer ganzheitliche Massnahmen anbietet, schafft Potenzial für positive Veränderungen zugunsten Unternehmen und Mitarbeitenden. Die Verantwortung für das individuelle Verhalten trägt der Arbeitgeber aber nicht. Jeder Mitarbeitende entscheidet für sich, ob und wie er vom Angebot profitieren möchte. Ein Beispiel ist das Thema «Stress». Hier gibt es eine objektive und eine subjektive Komponente. Letztere ist wichtig für den Einzelnen. Wer für sich selbst positive Emotionen fördert und individuelle Ressourcen für die Bewältigung von belastenden Situationen aufbaut, schafft sich ein Fundament für Gesundheit und Selbsterfüllung. Das muss jeder für sich selbst tun, der Betrieb kann höchstens unterstützend wirken.

Die Gesundheitsförderung Schweiz vergibt mit Friendly Work Space seit 10 Jahren eine Auszeichnung für Organisationen, die betriebliches Gesundheitsmanagement erfolgreich umsetzen. Welche Ziele verfolgen Sie mit diesem Qualitätslabel?

Das Label soll Unternehmen unterstützen, das Wohlbefinden der Mitarbeitenden nachhaltig zu fördern. Dafür wurden Qualitätskriterien definiert, die die systematische Umsetzung von BGM gewährleisten. Seit diesem Jahr profitieren insgesamt 255’000 Mitarbeitenden in 83 Organisationen davon, dass ihre Arbeitgeber gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen geschaffen haben.

Sie sind zweifacher Familienvater. Verraten Sie uns zum Schluss, welchen Ratschlag Sie Ihren Töchtern mit auf den gesundheitlichen Weg geben?

Eine positive Einstellung zum eigenen Körper ist die Voraussetzung für ein zufriedenes und gesundes Leben. Dies gilt umso mehr, als dass heute scheinbare Schönheitsideale Druck auf Kinder und Jugendliche ausüben. Wer seinen Körper akzeptiert, schätzt und seine Bedürfnisse wahrnimmt, ist motiviert, durch ausreichend Bewegung und ausgewogene Ernährung sich selbst Sorge zu tragen. Dabei geht es nicht um ein Körpergewicht mit einem «normalen» Body-Mass-Index. Es geht um eine gesunde Beziehung zum eigenen Körper.

Zur Person

Prof. Dr. Thomas Mattig engagiert sich seit 2007 als Direktor von Gesundheitsförderung Schweiz. Deren gesetzlicher Auftrag ist es, in der ganzen Schweiz gesundheitsfördernde Massnahmen anzuregen, zu koordinieren und deren Wirkung zu überprüfen. Thomas Mattig ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

VBZ gesund unterwegs

Mit der Vision «Gemeinsam gesund» investieren die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) in gesunde Arbeitsbedingungen. Ein ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement bietet dafür den Rahmen. Nach 2013 und 2016 wurden die VBZ zum dritten Mal mit dem Zertifikat «Friendly Work Space» ausgezeichnet. Das Qualitätssiegel, vergeben von der Gesundheitsförderung Schweiz, zeichnet Organisationen aus, die sich systematisch für gute Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden einsetzen.

 

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