Der Autor ist ab und an auch im Fahrdienst unterwegs. Seine Beobachtungen inspirieren ihn immer wieder, sich mit dem Stadtbild auseinander zu setzen. Notierte Gedanken animieren zu Spaziergängen. Vielleicht auch Sie?
Gastautor: Mario Schmid, Betrieb VBZ. Fotos: Mario Schmid.
Architektur und städtisches Leben üben seit langem eine Faszination auf mich aus. Der öffentliche Verkehr nimmt darin eine besondere Stellung ein, verleiht er doch dem städtischen Raum vielerorts eine prägende Note. Einerseits sind die sich im Laufe der Jahre verändernden Verkehrsmittel Bestandteil des Stadtbildes selbst, andererseits ist die Geschichte eines Verkehrsbetriebes teilweise an dieser Veränderung ablesbar. Meine persönliche Passion ergibt sich daraus: Egal, ob zu Hause oder unterwegs, gilt es, die wertvollsten, schönsten oder bizarrsten Szenen auf einer Foto einzufangen und die Sammlung zu bereichern. Niemals ruht der Blick, niemals könnte ich achtlos oder unaufmerksam durch die Strassen gehen. Und meine berufliche Tätigkeit auf der Leitstelle bringt es mit sich, dass ich zeitweilig auch Fahrdiensteinsätze leiste. Von meinem Logenplatz aus liefert mir hier Zürich fast ohne Unterbruch zahllose Eindrücke; oft notiere ich mir besondere Perspektiven oder Details, die mich später motivieren, das Sujet zum richtigen Zeitpunkt mit der Kamera zu dokumentieren. Ein paar dieser eingefangenen Impressionen und Augenblicke werden nachfolgend vorgestellt.
Blaue Stunde am Engrosmarkt
Bereits sehr lange stand die Leuchtwerbung am Engrosmarkt auf meiner Liste – wie oft ist man schon an dieser Werbung vorbeigefahren. An einem äusserst milden Samstagabend nutzte ich den Moment und stellte mich zur blauen Stunde an die Aargauer-/Pfingstweidstrasse. Es wurde höchste Zeit: Mittlerweile ist das Emblem schon etwas gealtert, bei den Kopfsalaten fehlt die eine oder andere Röhre. Ob das je nochmals in Stand gestellt wird? Wünschenswert wäre es. Was stellt denn das in der Mitte dar? Ist es eine Tomate oder doch ein Apfel? Ich gehe davon aus, dass die anderen beiden Früchte wahrscheinlich Melonen sind. Es könnten aber auch Orangen sein!
Blickt man Richtung Stadt, fallen einem die neuen Hochhäuser auf – wie hat sich Zürich hier im ehemaligen Industriequartier in den letzten Jahren verändert. Im Vergleich zu den vorherigen Jahrzehnten kannten wir diese Dimensionen eigentlich nur von ausländischen Grossmetropolen. Nicht, dass die neue Struktur uninteressant wäre, aber die einstmals hochgehaltene Sicht auf die Hügelzüge verschwindet nun stellenweise. Mein Weg führte anschliessend an den Stampfenbachplatz. Dort betrachtete ich jüngst den Schriftzug von «Zingg-Lamprecht». Seit 1938 ist dieses renommierte Zürcher Einrichtungshaus hier schon anwesend! Wer schöne Möbel für ein Wohnzimmer oder eine Büroausstattung sucht, wird hier sicherlich fündig – ein grosszügiges Budget sollte allerdings zur Verfügung stehen. Hier gibt es sie, die Klassiker von Thonet oder die italienischen Design-Sofas. Überhaupt der Stampfenbachplatz! Eigentlich ein grossstädtischer Platz, mit kleinstädtischen Dimensionen zwar, dennoch säumen stattliche und eindrückliche Gebäude das Geviert. Beachtenswert ist die Bebauung am Neumühlequai auch, weil sie die leichte Hanglage aufnimmt.
Schaut man «in die Walche», dann scheint diese Schlucht heute eigentlich nicht mehr sehr anziehend: Oft herrscht viel Verkehr, die Abgase hängen darin. Als ich mit der Kamera dastand, kamen Erinnerungen an Mailand auf. Die klare Sachlichkeit der Bauten der kantonalen Verwaltung macht Eindruck und zeugt unweigerlich auch etwas von Macht. Gerade so, wie wenn man von der Piazza della Republicca in Richtung Stazione Centrale schaut. Bloss halt eben viel kleiner und etwas weniger mondän. Der Blick von der Terrasse am Walcheplatz in Richtung Hauptbahnhof ist eindrücklich, weil sich das Gelände öffnet. Der nach dem S-Bahn-Bau annexierte Bau des Nordtraktes scheint mir etwas gar brutal und klotzig, dieser Bereich hätte eine etwas feinere Lösung verdient.
Stadtlicht im Wandel
Betrachtet man alte Postkarten, dann waren die klassischen Neonschriften früher zahlreicher. Dennoch sieht man in der jüngeren Zeit immer wieder Geschäfte, welche die feine Art der Werbeanlage bevorzugen und sich eine massgeschneiderte Neonschrift anbringen lassen. Hinsichtlich Licht: Seit 2015 werden die Natriumdampflampen mit ihrem orangen Schimmer umgestellt. Das monochromatische Licht ermöglicht zwar kaum Farbsehen, aber das menschliche Kontrastsehen ist in diesem Bereich des Farbspektrums hoch: Deshalb wurden diese Lampen bevorzugt zur Beleuchtung von Verkehrswegen eingesetzt, gleichzeitig zog es weniger Insekten an. Die Zürich-typisch blauen Gehäuse, die an Querspannern über den Strassen hängen und die eigentliche Lampe aufnehmen, werden verschwinden – und damit auch das gewohnte nächtliche Bild, wenn man unterwegs ist. An verschiedenen Orten der Stadt hat bereits das kalt-weisse LED-Licht Einzug gehalten. Man sieht den Unterschied, wenn man von der Walche-Terrasse gegen den Hauptbahnhof schaut. Beim Licht gilt die Erkenntnis, je kälter je effizienter, was wir ihn privaten Räumen bekanntlich nicht unbedingt mögen. Die Umstellung erfolgt schrittweise, wenn die bestehenden Leuchtmittel (eine Natriumdampflampe hält etwa fünf Jahre) das Lebensende erreicht haben. Die LED-Lampen haben auch Vorteile hinsichtlich des Energieverbrauchs, was bei 42 000 Leuchten durchaus ins Gewicht fällt.
Von der Walche zur Sihlporte
Die nächste Station führt uns an die Sihlporte: Dort zog die am «Cityhaus» angebrachte «Türler»-Uhr die Aufmerksamkeit auf mich. Der Schriftzug des Uhrenhauses ist wohl auch ein Zürcher Evergreen; schon als Jugendlicher verband ich diese Werbung immer mit Zürich. Die Sihlporte zählt von der Architektur und ihren Bauten her zu meinen Lieblingsvierteln. Die schönen, grossen Handelshäuser unterschiedlicher Epochen und die grosszügige Verkehrsführung lassen alles grossstädtisch wirken. Die abgerundeten Bauten aus den 1920er Jahren sind der damaligen Sicht auf die «organische Einheit» zwischen Architektur und Verkehr geschuldet: Die Idee war, die Kurve der Strasse auf den Baukörper zu übertragen und damit gleichzeitig bessere Sichtverhältnisse im Verkehr zu erreichen. Bloss, Aufenthaltsqualität gibt es hier durch die autogerechte Struktur eigentlich keine.
Bis 2004 beherbergte das Gebäude «Zentrum» viele Jahre eine Filiale des legendären Schweizer Kaufhauses EPA. Das City-Hochhaus von 1955 mutet wie ein Stahlskelett-Bau an, wie es in Amerika zu Tausenden steht – einfach in «Swiss Miniature». Vermutlich hätte das Haus heute im Primetower vier Mal Platz, obwohl auch jener nicht extreme Dimensionen aufweist. A propos Sihlporte: Warum heisst die Tramhaltestelle heute eigentlich «Sihlstrasse»? Also «Sihlporte» tönt dann doch mondäner! Auf den Wegweisern findet man nämlich immer wieder Sihlporte.
Die Kaufhäuser rund um die Bahnhofstrasse
Die hell erleuchteten Fenster des ehemaligen BallyHauses erinnerten mich neulich daran, dass ich Ende der 1990er Jahre nächtliche Aufnahmen angefertigt hatte, die irgendwo in einem Karton auf den Verwendungszweck harren. Noch immer gefällt mir der Bau von 1967 der Architekten Häfeli-Moser-Steiger gut. Das drittunterste Kellergeschoss ist übrigens nur halb so gross wie die anderen: In der zweiten Hälfte war Platz für den nie gebauten U-Bahn-Tunnel vorgesehen. Das Traditions- unternehmen Bally hat inzwischen einer spanischen Kleiderkette Platz gemacht. Entsprechend musste auch für die Werbeanlage eine neue Verwendung gefunden werden. Die «Kunst am Bau»-Lösung mit den täglich wechselnden Worten finde ich mittlerweile ganz gelungen. Obschon ich den Kleidergiganten aus Spanien nicht ablehne, finde ich es schön, dass sich nicht dessen Firmenname in der ursprünglich famosen Installation wiederfindet; man hätte ja sowieso ein Problem – was täte man mit der fünften Kugel! An diesem Abend, als ich mit der Kamera unterwegs war, leuchtete das Wort «Youth» – passend zum Beginn der nächtlichen Ausgeh-Stunden. Eines Blickes wert ist auch das Modissa-Haus auf der gegenüber- liegenden Seite. Die erleuchteten Fenster und Sonnenschirme im kleinen Bistrot bringen Frühjahrsstimmung in den Nachthimmel. Beachtlich sind auch die Steinfigürli am Manor-Kaufhaus (ehemals Oscar Weber; hatte ich doch jüngst tatsächlich eine Dame dans un certain âge als Sitznachbarin, die einen Plastiksack in noch feinem Zustand mit eben dieser Aufschrift spazieren führte! – Wie dauerhaft Plastik doch sein kann). Die sichtbare Baute stammt von 1912 und gehörte damals zu den Kaufhäusern von Julius Brann – Mitte der 1930er Jahre das grösste schweizerische Detailhandelsunternehmen.
Auch bei Tageshelle spielt das Licht eine Rolle
Es soll nun nicht der Eindruck entstehen, dass hauptsächlich nächtliche Touren am meisten Spezialitäten sichtbar werden lassen – tagsüber gelingt das genauso gut. Obwohl mir das Föhnwetter oft Kopfweh beschwert, so hat genau diese Stimmung schöne und stimmungsvolle Lichtverhältnisse zur Folge. Mit dem Teleobjektiv rücken die Innerschweizer Alpen noch näher an Zürich, das Fotomotiv auf der Quaibrücke zeigt die Postkartenansicht. Der ferne Kirchturm von Thalwil ist gut zu erkennen, ebenso die Wasservögel. Womit mögen sie sich beschäftigen?
Der starke Wind hat auch dem Zürichsee schöne Wellen beschert. Das harte Abendlicht versetzt die Stimmung mit frühlingshaftem Grün am Bahnhof Tiefenbrunnen in eine Stadtlandschaft, die den Anschein erweckt, künstlich koloriert worden zu sein. Die rechte Seite des ausfahrenden Trams wäre eigentlich im Schatten, doch die Scheiben des dort situierten Bürogebäudes mit viel Glas lassen das Licht reflektieren und sorgen so für einen speziellen Effekt. Mögen diese persönlich gefärbten Impressionen und Bilder unsere Leserinnen und Leser dazu animieren, die Stadt mit ihrer Schönheit und reichhaltigen Facetten aus einem anderen Blickwinkel, ihrem ganz individuellen, neu zu entdecken.