Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Der Bürkliplatz, wo es für einmal mehr um Gefühle als um Gemüse ging.
Dienstag, 17. Oktober , 10.47 Uhr. Tramhaltestelle Bürkliplatz
Männer weinen selten. Noch seltener öffentlich. Und am seltensten öffentlich und ohne Anlass. *
Und doch hatte ich kürzlich weinen müssen. Öffentlich. Ohne Anlass. Oder sagen wir: Ohne Anlass in der Art, wie in der Fussnote unter a), b) und c) skizziert.
Es geschah am Dienstag, 17. Oktober, um 10.47 Uhr, am Bürkliplatz. Dass ich dahin ging, lag daran, dass mir seit meinem letzten runden Geburtstag – er hatte vor bald einem Jahr stattgefunden – ganz unterschiedliche Menschen ganz unterschiedliche Ratschläge erteilt hatten. Das erstaunliche daran war, dass bis auf eine Ausnahme alle diese Tipps einen gemeinsamen Nenner hatten – sie sollten mein Wohlbefinden verbessern. Hier eine Art Best-Of:
«Sie müssen mehr Zeit an der frischen Luft verbringen!» (Hausarzt). «Du solltest mehr gesundes Gemüse essen.» (Mama; auf meine Gegenfrage «Gibt es eigentlich auch ungesundes Gemüse?», sagte sie minim genervt «Werd endlich erwachsen!»). «Sie sollten sich generell mehr bewegen!» (Physiotherapeutin). «Gönn dir doch einfach mitten am Tag mal zehn Minuten Ferien! Indem du dich an einen dir wohlgesinnten Ort begibst, und da entspannt die behagliche Wärme unseres Muttergestirns aufsaugst.» (Langjährige Kollegin, die an ihrem letzten runden Geburtstag ihren Mann verliess und dafür mit der Esoterik zusammenkam). «Lass uns an die Kraft der Musik glauben!» (Mein DJ-Kollege mitten in einem Set für eine Hochzeitsgesellschaft, an der wir zuerst an die Anweisungen vom Trauzeugen geglaubt hatten – «Disco, Clubbig, Dance, Hip Hop, egal, Hauptsache man kennt es, Hitparade eben … und bitte ja kein Gitarrenzeugs und kein Indie Rock oder wie das heisst, das hassen sie beide!» – was ein Fehler gewesen war).
Zum Glück gibt’s die Schnittmenge
Als ich mich dann am Morgen des 17. Oktobers wenige Minuten nach dem Aufstehen schon wieder so müde gefühlt hatte, wie man sich fühlt, kurz bevor man nach einem anstrengenden Tag ins Bett geht, zum Glück aber dennoch merkte, wie sich hinter den Nebelschwaden ein prächtiger Herbsttag bereitzumachen begann, war mir klar: Jetzt war der Moment gekommen, all diese Feelgood-Ratschläge zu beherzigen! Wirklich «alle» zu vertiefen, ging natürlich nicht. Doch für irgendwas haben die Mathematiker schliesslich die Schnittmenge erfunden – und diese Schnittmenge liess mich dann eben per Velo zum Bürkliplatzmarkt radeln. Damit hatte ich erfüllt: Frische Luft, mehr Bewegung und gesundes Gemüse (ich kaufte Karotten, Blumenkohl und Auberginen).
«Gönn dir doch einfach mitten am Tag mal zehn Minuten Ferien!»
Ich fühlte mich bereits bedeutend besser (im Sinn von entspannter, freudiger, leichter), als ich um 10.46 Uhr über den Fussgängerstreifen in Richtung des sonnigen Schiffstegs ging (um dort meinen Zehn-Minuten-Urlaub zu verbringen), wozu ich mir – die Kraft der Musik – nun auch die iPod-Stöpsel ins Ohr gesteckt hatte…
…ja, und dann passierte es. Just als ich auf der Traminsel vom Bürkliplatz ankam, spielte das Gerät das Stück «Misses» der belgischen Band «Girls in Hawaii». Gitarrist und Sänger Antoine Wielemans hatte ihn im Gedenken an seinen Bruder Denis geschrieben, der bei der Band als Drummer fungiert hatte und 2010, im Alter von 28, bei einem Autounfall in Brüssel ums Leben gekommen war. Kann Melancholie bittersüsser sein als in diesen 3.37 Minuten, die Dankbarkeit und Traurigkeit vereinen, wie sie vielleicht nur innige Liebe vereinen kann? Ich glaub, ich weiss die Antwort. Und ich glaube auch, dass ich weiss, was ich in ebendiesem Augenblick spürte, als ich mit ebendiesem Lied im Ohr an ebendiesem Ort stand, und die Tränen kamen.
* Mit «Anlass» sind Sachen gemeint wie:
a) Der Mann ist mit anderen Männern in einer Bar und hat eben zugeschaut, wie sich die Schweiz in einem dramatischen Match für die nächste Fussball-WM hat qualifizieren können, was ihn emotional … genau: übermannt
b) Vor wenigen Minuten hat der Mann seine Ex-Freundin erotisch aufgebrezelt am Central ein Tram besteigen sehen, an ihrer Hand wohl der neue Typ, der sie später garantiert noch be … pardon, wir sind ja hier auf einem anständigen Portal. Und obwohl auch der Mann eine neue Freundin an der Hand mitführt, denkt er nun voller Wehmut an die schöne Zeit mit der Ex zurück, und rasch wird aus dem normalen darüber Nachdenken ein richtiges Drama, und schliesslich gar eine veritable Midlife-Crisis, und der Mann würde jetzt am allerliebsten alles stehen und liegen lassen, um dem Tram, in dem seine Ex mit seinem Nachfolger hockt, hinterherzustürmen, und dann an der nächsten Haltestelle – also am «Neumarkt» – heftig atmend das Tram zu besteigen, vor ihr auf die Knie gehen, und sie mit dem Rezitieren eines zwar romantischen, aber doch mehr oder weniger verständlichen Gedichts zu bitten, zu ihm zurückzukehren, um die Reste ihrer beider Leben gemeinsam und auf immer eng umschlungen zu verbringen, er sei jetzt, würde er beim ersten Anflug von Lächeln auf ihrem Gesicht sofort flöten, sogar bereit für das von ihr langersehnte Kind, und … und just dann rupft ihn seine neue Freundin an der Hand und will wissen, warum er so geistesabwesend sei, sie habe ihn schon dreimal gefragt, ob er heute Abend auch Lust auf «Gschwelti mit Chäs» habe, falls ja, würde sie vorschlagen … doch er hört ihren Vorschlag nicht mehr, weil ihm die Vorstellung von «Gschwelti mit Chäs» grad den Rest gegeben hat, und er, derweil sein Körper vor lauter Frustration kraftlos zu Boden stürzt, sein Kopf endgültig begriffen hat, dass sein Dasein hundselendsverdammt stier geworden ist, und so tut er mitten auf dem schönen neuen Central auf dem Tramperron liegend dann das, was alle auf tragische Art und Weise enthemmten Männer tun – er flennt sich all sein Selbstmitleid aus den Augen.
c) Der Mann hat kurz nach Betreten seiner Lieblingskneipe schockiert realisiert, dass jemand seinen theoretisch unschlagbaren Rekord im «Phoenix»-Game gebrochen hat (die 80er-Jahre-Tischspielkonsole hatte, das die nur der dramaturgischen Vollständigkeit halber schon damals hinten in der schummrigen Ecke neben dem Männer-WC dieses Quartierspuntens gestanden, als er hier mit sechs oder sieben Jahren für Grosspapi das erste Mal ein Päckli «Gauloises gelb» hatte besorgen müssen) – einen Rekord, den er vor ziemlich präzis 32 Jahren aufgestellt und den er in den vergangenen drei Jahrzehnten jeder seiner spärlichen Frauenbekanntschaft (es waren drei, wobei er es bei der einen nicht übers erste Date hinausgeschafft hatte) präsentiert hatte, weil ihn die Bestleistung, für die er sich satte sechseinhalb Stunden lang die Finger blutig gespielt hatte, noch immer mit viel Stolz erfüllte, vor allem aber, weil es die einzige sichtbare «Spur» war, die er in seiner Geburtsstadt jemals hinterlassen hatte.
Und nun, lehnen Sie zurück und lassen Sie sich treiben: