Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Heute: Beim Triemli, wo einem durchaus mal die Kunst anspringen kann.
Freitag, 25. Januar, 11.19 Uhr. Bushaltestelle «Triemli»
«Kunst ist nichts, was man finden kann, nein, von der Kunst wird man gefunden.» Es war angeblich ein grosser Mann, der das sagte (absolut einverstanden, mir wäre eine angeblich grosse Frau auch lieber gewesen, naja, kann man nichts machen), doch es war nicht Karl Kraus, soviel weiss ich, der Wiener Querdenker und Satiriker sagte andere interessante Sachen, zum Beispiel «Künstler ist einer, der aus einer Lösung ein Rätsel machen kann», aber nein, das Eingangszitat, das hat ein anderer Kerl geäussert, doch mir fällt beim besten Willen nicht mehr ein, wer es war.
Jedenfalls, das als Ratschlag: Es ist nie falsch, ein Zitat an den Anfang eines Textes zu stellen. Vor allem eines, das auf den ersten Blick gescheit und/oder mondän wirkt. Das gibt allem, was danach folgt, einen besonderen Glanz, ähnlich dem, den die Zähne nach der Politur bei der DH haben. Pardon, wir schweifen ab, husch husch zurück in die Spur.
Jedenfalls: Dieses Zitat kam mir nicht in einem erhabenen, sondern in einem eher profanen Augenblick in den Sinn. Konkret wars am letzten Freitag im Januar, als ich etwas tat, was ich noch nie davor getan hatte (und hoffentlich auch so bald nicht mehr tun muss, ich fühlte mich nicht gut dabei, ich passe nicht in diese moderne Warenwelt, ich bin einer, der, den Eltern sei Dank, seine ersten lässigen Hosen bei Willy Korn aussuchen durfte – Motto: «Di beschte Jeans i jedere Form, die poschtete me bim Willy Korn» – und den dieses tolle Erlebnis so sehr prägte, dass er danach zeitlebens immer in Läden ging, immer den persönlichen Kontakt mit dem Verkaufspersonal hatte und schätzte) – ich retournierte am K-Kiosk bei der Endhaltestelle Triemli ein grosses Zalando-Paket!
Da passte nicht viel zusammen
Es war voller Winterjacken, die eine war zu chic gewesen, die andere zu gross, in der dritten sah ich aus wie der Michelin-Mann, die vierte war zu teuer, und die fünfte hätte womöglich gepasst, blöderweise war mir aber nach der vierten die Lust auf die heimische Anprobe – und darum ohne erfahrene Verkäuferin, die flötet «Oh, die steht Ihnen aber ausgezeichnet, Mössiö» – endgültig vergangen). Und während ich mit dem Riesenpaket wartete, bis die vor mir stehende Kundschaft Lottoscheine bezahlt, Zigaretten gekauft oder sich mit der neusten Ausgabe des «Hygge»-Magazins die einzig wahre Lektüre für ein entspanntes Wochenende angeschafft hatte, kam mir eben das eingangs erwähnte Kunstzitat in den Sinn.
Und mehr noch: Da zu meinem eigenen Erstaunen grad keine Verpflichtung anstand, mich zudem mein beissendes Gewissen daran erinnerte, dass ich doch bereits im Dezember einen Beitrag für die Rubrik Innehaltestelle versprochen hatte, machte ich dann Nägel mit Köpfen, sprich ich versuchte, ob mich, wie im Bonmot überliefert, die Kunst wahrhaftig finden würde, wenn ich ihr signalisierte, dass ich direkt hier beim Triemli auf sie warte.
Auf den Spuren von Grossmeister Frisch
Ein Weilchen passierte nichts. Ich sah Tram ein- und Busse ausfahren, hörte Leute reden und Autos rasen, spürte mal einen kitzelnden Sonnenstrahl und mal eine pustende Windböe. Ziemlich sicher hatte ich für die Rubrik «Innehaltestelle» noch nie derart konzentriert innegehalten, musste nun aber einsehen, dass das so nicht funktionierte, jedenfalls nicht mit dieser Kunstsache. Also öffnete ich, yoga-mässig gesprochen, meinen Gedanken das Gefängnistor und liess sie fliegen wie Brieftauben ohne Auftrag. Und siehe da: Plötzlich war da der Hauch einer Idee – und vor allem die Lust, damit rumzuspielen. So nahm ich den Notizblock hervor, notierte mir alle Stationsnahmen der Buslinie 33 von Bahnhof Tiefenbrunnen bis Triemli – in diese Richtung sind es just 33, in die andere seltsamerweise 34 – und formulierte zu jeder Station exakt jene Frage, die mir dazu spontan in den Sinn kam – ohne nochmals darüber nachzudenken, ohne die erste Frage in einer zweiten Version zu verbessern.
Inspiriert (oder ehrlicher: abgekupfert) war der Geistesblitz vom Zürcher Künstlerduo Fischli/Weiss, das 2003 in seinem tollen Büchlein «Findet mich das Glück?» ganz viele tiefsinnig-poetische Fragen formuliert hatte. Und natürlich auch von Grossmeister Max Frisch, der selbiges bereits 1966 in seinem berühmt gewordenen «Fragebogen» getan hatte, dessen grandiose erste Frage lautete: «Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?»
Klar, es wäre absolut vermessen, mich mit diesen Heroen vergleichen zu wollen (obwohl ich insgeheim schon hoffte, dass mich die Muse nicht nur finden, sondern vielleicht auch mal küssen würde) – nein, die Sache war ein reines Experiment. Und da Kunst ja auch Gewissheiten hinterfragen und nach verborgenem Tiefsinn suchen soll, schien mir diese Methode passend, zudem war es einfacher als dichten (oder versuchen Sie mal mit «Höschgasse» oder «Klusplatz» einen einigermassen geschliffenen Reim zu basteln). Item, genug palavert, hier sind sie, die 33 Spontanfragen, die mich im Zeichen der Kunst «gefunden» haben:
Bahnhof Tiefenbrunnen Wieso können wir in Büchern das Surreale problemlos als real akzeptieren – zum Beispiel die fiktive Tatsache, dass die Hauptfigur in Murakamis Roman «Mr. Aufziehvogel» irgendwann einfach in einem tiefen Brunnen sitzt – derweil uns das in der Realität kaum je gelingt?
Wildbachstrasse Wäre Franz Schuberts «Forelle» auch dann so berühmt geworden, wenn das Bächlein nicht klar, sondern wild gewesen wäre?
Fröhlichstrasse Wie lange dauert eigentlich eine durchschnittliche Traurigkeit? Ist das altersabhängig, geschlechterspezifisch, geografisch bedingt?
Höschgasse Wenn man an der Station steht und sich alle Häuser und Geschäfte und Menschen und Schienen und Strassen wegdenkt, und sich hier stattdessen ein riesiges Sumpfgebiet vorstellt – eben, ein Seefeld – wäre dann der Name Fröschgasse nicht fast passender?
Botanischer Garten «Die Mount Usher Gardens in der irischen Ortschaft Ashhord?» Dies wäre beim berühmten TV-Quizspiel «Jeopardy!» meine Frage auf die Aussage: Das ist der eindrücklichste Botanische Garten, den Sie jemals gesehen haben!
Hegibachplatz Wäre der Hegi ein Teddy mit Vornamen Freddy, und hätte dieser Freddy Hegi die Legi vom Sebi, wäre er dann womöglich ready für einen Vegi-Kebi? (Kebi = Teenie-Slang für Kebab)
Freiestrasse Ist das Freie auf Strassen nicht immer nur das Freie der Anderslenkenden?
Klusplatz Wird es ein schlimmer Tag sein, an dem niemand mehr wissen wird, was der Begriff Klus bedeutet? Oder hängt das davon ab, was der Grund dafür ist, dass es niemand mehr weiss?
Hölderlinsteig Wieso erhält jemand, der niemals in Zürich werkte, und in dessen Werk Zürich gar nicht vorkommt, in Zürich einen nach ihm benannten Steig? (Und dann noch ein samtener, romantischer Dichter … man hätte den Steig ja auch James Bond widmen können, der war auch nie da, aber der verhiesse wenigstens ein bisschen Action).
Klosbach Wildbach, Hegibach, Klosbach – ob es da einen gemeinsamen Ursprung gibt?
Hofstrasse Ist es nicht höchst angenehm, gerade in solch wirren und verwirrenden Zeiten, wenn manchmal etwas derart klar und verständlich ist, sodass es keine Fragen offen lässt, sodass Jede und Jeder auf Anhieb weiss, was Sache ist – wie zum Beispiel beim Wort Hofstrasse?
Kirche Fluntern Vor 40 Jahren gewann der Song «Hallelujah» der Band Milk and Honey den Eurovision Song Contest und erreichte Platz zwei der Schweizer Hitparade. Ein Kirchenlied in den Charts! Wie gut stehen die Chancen, dieses «Wunder» dank dem Zwingli-Hype nochmals zu erleben?
Hinterbergstrasse Wie war es wohl damals, als es weder GPS noch gute Landkarten gab, und man bei Jemandem zum Fest eingeladen war, der auf die Einladung schrieb: «Mein Haus steht an der Strasse hinter dem Berg»?
Spyriplatz Hätte Johanna Spyri, die in diesem Land mehr Herzen berührte als Rosamunde Pilcher oder Johannes Mario Simmel, in der Stadt, in der sie begraben liegt, nicht eher durch eine Statue oder ein Denkmal als «bloss» durch eine Strasse gewürdigt werden sollen?
Vogelsangstrasse Ob es im Reich der singenden Vögel auch so einen Starkult gibt wie im Reich der singenden Menschen?
Seilbahn Rigiblick Standseilbahn? Luftseilbahn? Drahtseilbahn? Wenn man eine Station schon so technisch tauft, könnte man doch wenigstens ein wenig in die Details gehen.
Scheuchzerstrasse Bin ich der einzige Mensch auf Erden, der sich beim lauten Aussprechen von «Scheuchzer» spontanerkältet fühlt, jedenfalls ein übles Kratzen im Hals spürt?
Schaffhauserplatz «Lappi mach d’Auge uf» war einst der Spruch, den sich ein Zürcher Kind von den Eltern oder von Lehrern bei jedem Misstritt hatte anhören müssen. Ob das heute noch immer so ist? Und ob heutige Erwachsene und Kinder noch wissen, was das mit Schaffhausen zu tun hat?
Rotbuchstrasse Ist es nicht ein schelmisches Treiben der Natur, dass sich gerade der Bunt-, der Grau- und der Schwarzspecht für ihre Nisthöhlen gerne eine Rotbuche aussuchen? (wie ich einst gelesen hatte). Und dass die Blut- und die Goldbuche zu den bekanntesten Ziersorten der Rotbuche gehören (wie ich auch einst gelesen hatte)?
Nürenbergstrasse Und ist es nicht ein schelmisches Treiben der Sprache, was bloss ein einziger Buchstabe zu viel bewirken kann?
Bahnhof Wipkingen Und ist es nicht unfassbar einfallslos, einer ÖV-Station den Namen einer anderen ÖV-Station zu geben?
Rosengartenstrasse Und ist es nicht unfassbar traurig, dass man an der ganzen Rosengartenstrasse vor lauter Verkehr keinen einzigen Rosengarten sieht?
Escher-Wyss-Platz Und ist es nicht unfassbar … nein, basta, Schluss damit, viel wichtiger ist die Frage: Sind die Kommerzpartys, die nun regelmässig in diesem alten Industriegebäude stattfinden, wirklich das richtige Vermächtnis?
Schiffbau Ist es nicht verrückt, wie dadaistisch «Schiffbau» unvermittelt klingt, wenn man das «der» weglässt? Könnte das so nicht gar Teil eines Lautgedichts von Hugo Ball sein?
Bahnhof Hardbrücke Bahnhof Tiefenbrunnen. Bahnhof Wipkingen. Bahnhof Hardbrücke. Wildbach. Hegibach. Klosbach. Ist es nicht auffällig öde, wie viel Repetition auf der Linie 33 stattfindet?
Hardplatz Wenn man Hart mit d schreibt, klingt es dann nicht eigenartig weich?
Albisriederplatz Wie schlimm ist es eigentlich auf einer Skala von 1 bis 13, wenn einem zwischendurch – konkret zum Beispiel zum Namen Albisriederplatz – einfach gar-gar-gar nichts einfällt? Also nichts Doofes, nichts Gescheites, nichts Lustiges, nichts Böses, nichts Passendes, nichts Reimendes, nichts Keimendes, nichts Albisriederisches?
Altes Krematorium Ab wann ist alt eigentlich alt? Und ist hier wirklich alt oder nicht einfach älter gemeint?
Hubertus Wäre das nicht lustig oder gar sympathisch oder vielleicht sogar nötig, wenn in der Rangliste der beliebtesten Vornamen zwischen all den Noah, Liams, Lucas, Gabriels oder Leons wieder mal etwas wirklich Ausgefallenes wie Hubertus auftauchen würde?
Sackzelg Tönt das nur in männlichen Ohren wie etwas sehr Unangenehmes und Schmerzhaftes – selbst wenn man gar nicht weiss, was damit gemeint ist?
Schulhaus Altweg Ist das, wenn man so an die Zukunftsperspektiven denkt, wirklich ein clever gewählter Schulhausname?
In der Ey Welcher Bond-Song ist besser, der für den Film «For Your Eyes Only», oder der für «Golden Eye»? Und ist überhaupt einer so gut wie die Titelmelodie von «Eye of the Tiger?»
Triemli Wenn sie in Basel der Strassenbahn «Drämmli» sagen, könnten wir Zürcher unseren Trams dann nicht Triemli sagen? Oder Träumli?
Damit ist das Ziel erreicht … also dasjenige der Linie 33, die Endhaltestelle Triemli. Was das Experiment mit der Kunst anbelangt, bin ich eher skeptisch, ob man das als geglückt bezeichnen kann. Doch wer nicht wagt, nicht gewinnt, ein Versuch wars allemal wert.
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