Am 6. Juli feiert die Grossstadt Zürich ihr 125-jähriges Jubiläum. Wie sah der Zürcher ÖV damals aus? Ein Streifzug durch den Tramalltag von 1893.
Eigentlich gibt’s für die Verkehrsbetriebe Zürich nichts zu feiern. Anno 1893 existieren diese nämlich noch nicht. Der öffentliche Verkehr ist zu dieser Zeit vollkommen in der Hand privater Aktiengesellschaften. Aber ohne Zweifel bildet die grosse Eingemeindung von 1893 den Grundstein für das spätere Gedeihen des städtischen Trambetriebes. Deshalb steuern wir gerne unseren Beitrag zu den 125-Jahre-Feierlichkeiten bei – einen Streifzug durch den Tramalltag von 1893:
Die Mobilität auf Zürichs Strassen wickelt sich ausschliesslich auf Schusters Rappen und per Hafermotor ab. Noch immer prägt das gute alte Rösslitram die Szenerie. Die erste elektrische Tramlinie befindet sich erst im Bau.
Auf Shoppingtour in Luxemburg
127 Pferde zählt das Rösslitram anfangs Jahr. Elf davon werden zur Ausrangierung ausgeschieden; sie vermögen dem strengen Tramdienst nicht mehr zu genügen. Als Ersatz sowie für Mehrleistungen werden neue Tiere benötigt. Bereits am 21. Februar reserviert der Rösslitram-Betriebschef beim bewährten Lieferanten, Rosshändler Alphonse Worms in Luxemburg, 28 bis 29 Pferde. Worms ist nicht gerade billig, aber er kennt die Bedürfnisse des Kunden und seine Ardenner sind Spitzenqualität. Gegenwärtig kostet ein Tier 1050 Franken franko Zürich HB. Im März reist eine Dreierdelegation nach Luxemburg. Mit von der Partie sind Theophil Kuhn, Betriebschef, Eduard Schneeli-Berry, der Vizepräsident der Gesellschaft und Tierarzt Professor Hirzel, der an der Tierarzneischule (wie der Tierspital zu diesem Zeitpunkt heisst) noch Examen abnehmen muss, bevor er abreisen kann. Die drei kreuzen bei Worms am Boulevard Royale auf und wählen an Ort und Stelle 29 geeignete Tiere aus.
Mädeli kommt nach Zürich
Am 21. März treffen die Pferde in Zürich ein. Sie erhalten eine «Personalnummer» und, wie es sich gehört, einen Namen. Während im Vorjahr alle Namen mit «L» begonnen haben, ist jetzt der Buchstabe «M» an der Reihe. Das erste Pferd der 1893er Lieferung trägt die Nummer 287 und wird «Mädeli» getauft. Mit 148 cm Stockmass gehört die 5-jährige Stute zu den kleineren, was wohl beim Betriebschef zärtliche Gefühle ausgelöst haben mag. Andere Tiere erhalten weniger liebreizende Namen: Maske, Muskete, Morchel, Mönch, Melone. Zunächst werden die Neuankömmlinge rund einen Monat lang akklimatisiert, das heisst, behutsam an den harten städtischen Arbeitsalltag gewöhnt, der sich von den Jugendjahren in den Ardennen sehr unterscheidet. Dann werden sie in den regulären Dienst eingeteilt. Über das weitere Schicksal von Mädeli ist Folgendes bekannt: Als 1897 die Stadt den Rösslitrambetrieb übernimmt, wird es zur städtischen Mitarbeiterin. Ein Jahr später wird bei der Pferdeinspektion folgender Befund festgestellt: «hinten schwache Fesseln». Daher kommt Mädeli auf die Gant. Es ist nun 10 Jahre alt und sein Wert wird auf 250 Franken geschätzt. Die ausgemusterten Rösslitram-Tiere sind bei Fuhrhaltern, Gewerbetreibenden und Landwirten begehrt. Auch bei Mädeli jagen sich die Angebote gegenseitig in die Höhe. 500 Franken bietet schliesslich ein J. Bürgin aus Bendlikon. Und zum Ersten, zum Zweiten und zum … – Mädeli gehört ihm und wir hoffen, dass ihm am Zürichsee ein erfüllter Lebensabend beschieden ist.
Entlassen wegen Hafermanko
Heu bezieht man hauptsächlich von Bauern in der Umgebung, Kraftfutter wird wagenladungsweise über Getreidehändler auf dem europäischen Markt eingekauft. Die Ration ist genau vorgeschrieben: pro Tier und Tag 7½ Kilo Hafer und 5 Kilo Heu. Im März 1893 wird der Futtervorrat überprüft. Die Inventur stellt fest: vorhanden sind 7428 kg Hafer, 8705 kg sollten es sein. Über die Ursache dieses Mankos kann Depotverwalter Keller keine Angaben machen. Weil auch sonst seine Dienstbeflissenheit nicht den Vorstellungen der Gesellschaft entspricht, wird er entlassen. Später stellt sich heraus, dass die Pferdewärter dann und wann die braven Tiere mit einer Extraportion verwöhnen. Dieser Praxis wird energisch Einhalt geboten.
Überhaupt ist 1893 ein schwieriges Jahr. Gegen Mitte Jahr steigen die Futterpreise. Das Heu ist rar und teuer. Aus Spargründen erhalten die Pferde vorübergehend etwas weniger Heu, dafür eine Ration kurzgeschnittenes Stroh. Auch der Preis für Hafer steigt. Das Unternehmen wagt den Versuch, die Ernährung etwa zur Hälfte auf den günstigeren Mais umzustellen, was selbst unter Fachleuten nicht unumstritten ist. Um den Pferden das Kauen zu erleichtern, müssen die Maiskörner leicht gequetscht werden, damit die harte Schale aufspringt. Daher wird eine Maisquetschmaschine angeschafft. Zum Antrieb wird ein Gasmotor gekauft, welcher auch an die Futterschneidemaschine zum Zuschneiden von Heu und Stroh angeschlossen werden kann. Die Ernährungsumstellung bewährt sich gut und so steht Mais auch weiterhin auf dem Speisezettel der Zürcher Trampferde.
Rossmist für Müller-Thurgau
Der täglich anfallende Pferdemist ist als Dünger bei Gärtnern und Gemüsebauern heiss begehrt und eine willkommene Einnahmequelle. Für einen Kubikmeter verlangt die Gesellschaft Fr. 4.50. Der Erlös aus dem Düngerverkauf beträgt dieses Jahr 5895 Franken und 10 Rappen, also ein Betrag, der für mehr als fünf neue Pferde reicht. Zu den Stammkunden gehört Professor Müller-Thurgau, zu dieser Zeit Direktor der Versuchsanstalt in Wädenswil. Regelmässig lässt er den Dünger für seinen Betrieb in Wädenswil per Ledischiff im Hafen Zürichhorn abholen, welcher sich unweit der Rösslitram-Stallungen an der Fröhlichstrasse befindet. 1893 ordert er zusätzlich eine Ladung für seine Rebberge auf der anderen Seeseite bei Stäfa. Nur möchte er diese gerne per Bahn geliefert haben, weil sich die Station Uerikon in nächster Nähe zum Rebberg befindet. Notgedrungen muss er sich etwas gedulden, denn die rechtsufrige Zürichseebahn wird erst im April des Folgejahres eröffnet.
Attraktiver Fahrplan, früher Betriebsschluss
Der Fahrplan ist recht attraktiv: auf fast dem ganzen Netz durchgehender 6-Minutenbetrieb, im Limmatquai ist sogar ein 3-Minutenbetrieb eingerichtet – besser als heute, wenngleich die 24- bis 28-plätzigen Wagen bei grösserem Andrang schnell mal am Limit sind. Geklagt wird vor allem über die regelmässige Überfüllung der Wagen in der Zeit zwischen 11.45 und 12.30 Uhr. Der Betriebsschluss am Abend ist zeitig. Bereits nach 21 Uhr fahren die Wagen in die Depots. Nachtschwärmer müssen zu Fuss heim. Eine Ausnahme bildet das Stadttheater. Zum Vorstellungsschluss werden Ross und Wagen nochmals aus den Depots geholt und vor dem Theater aufgestellt, um die Besucher zum Spezialtarif (25 Rappen) nach Hause zu kutschieren. Im Winterfahrplan 1893 sind vier Kurse vorgesehen: Ein Wagen zum Tiefenbrunnen, zwei Wagen über Hauptbahnhof nach Aussersihl und ein Wagen über Münsterbrücke Richtung Brunaustrasse, wegen der Steigung beim Rietberg ist dieser mit zwei Pferden bespannt. Im Jahr 1893 werden im Dienste der Kultur 850 solche Theaterfahrten ausgeführt.
Personal und Reklamationen
Die heutigen Trampiloten heissen 1893 Kutscher. Und selbstverständlich ist auf jedem Fahrzeug auch ein Kondukteur, welcher die Billette verkauft und kontrolliert. Beide Personalkategorien tragen eine Uniform, das Aushilfspersonal, welches vor allem am Sonntag Dienst tut, trägt lediglich eine Dienstmütze, nur im Winter erhält es allenfalls einen getragenen Mantel. Ab 1893 ist die Gesellschaft gegenüber dem Personal etwas grosszügiger. Fest angestellte Kutscher bekommen pro Jahr eine Peitsche im Wert von Fr. 2.50, Aushilfskutscher müssen die Peitsche selber bezahlen. Kondukteure erhalten am Ersten jeden Monats einen neuen Bleistift. Diesen brauchen sie für die Ausfertigung der Rapporte und der Billettabrechnung.
Das Personal wird mit harter Hand geführt. Die Betriebsleitung geht jeder Reklamation nach. So etwa jener vom Frau Bauer. Sie will das 20-Rappen-Billett mit einem Fünfliber bezahlen, der Kondukteur hat nicht genügend Wechselgeld, es kommt zu einem wüsten Wortwechsel. Der Gemahl von Frau Bauer verfasst ein geharnischtes Reklamationsschreiben. Der Betriebschef nimmt den Kondukteur ein Stück weit in Schutz, indem er es für unzumutbar hält, grosse Beträge von Wechselgeld mitzuführen. Er weist aber darauf hin, wie das korrekte Vorgehen in solchen Fällen geregelt ist. Der Kondukteur hätte die 5 Franken einkassieren müssen, ein Billett ausgeben, Frau Bauer seine Dienstnummer aufschreiben lassen und die Fr. 4.80 Herausgeld nach dem Dienst auf dem Betriebsbüro zuhanden der Kundin deponieren sollen.
Bilanz 1893
Ziehen wir eine Bilanz vom ersten Zürcher Grossstadtjahr, was den Trambetrieb betrifft: Insgesamt prächtiger Geschäftsgang. Befördert worden sind 3,9 Millionen Fahrgäste, eine halbe Million mehr als im Vorjahr. 162 000 Franken beträgt der Reingewinn – da lachen natürlich vor allem die Aktionäre: Sie erhalten 15 Prozent Dividende.